Verwirrende Decknamen

Terrorismus, Korruption und Fremdenfeindlichkeit: Die Fragen, die das indische Theater stellt, rücken Indien näher an den Westen. Die Biennale Bonn ermöglichte mit Theater und Ausstellungen einen umfassenden Einblick in die indische Kultur, die sich zunehmend mit politischen Themen befasst

VON DOROTHEA MARCUS

Während Angela Merkel noch in trauter Eintracht mit dem indischen Außenminister über die Cebit in Hannover lief, waren die Festivalmacher von Bonn in heller Aufregung: Für die meisten der indischen Theatergruppen gab es zunächst keine Visa, das Tanzensemble Spanda musste ganz zu Hause bleiben – man hätte sich aus dem finsteren Asien ja in den goldenen Westen abseilen können. So richtig weiß man in Deutschland wohl noch nicht, wie man dem aufstrebenden Subkontinent begegnen soll, dieser widersprüchlichen Mega-Demokratie mit 1,12 Milliarden Einwohnern, in der prächtiger Bollywood-Kitsch neben spiritueller Großmeisterei existiert. Indien ist für Deutsche dennoch ein Sehnsuchtsland. In der Romantik sah Herder dort die Wiege der Humanität und Schlegel die Wurzeln von „allem, ja allem“. Heute beeindruckt Indien, weil es sich trotz Informatikhype der Moderne widersetzt, Jeans und McDonald’s dort wenig Chancen haben – Pakora schmeckt eben viel besser und der traditionelle Sari bleibt als Lieblingskleidungsstück der Frauen ungeschlagen. Damit setze Indien sowohl der Globalisierung als auch der westlichen Dominanz eine wichtige, erfrischende Grenze – meinte zumindest der politische Autor Pankaj Mishra bei seinem Eröffnungsvortrag der Bonner Biennale.

Die Bonner Biennale zeigte den größten Einblick in indische Kultur, der je in Deutschland gewährt wurde: 12 Theatergruppen, 5 Tanzproduktionen, 1 Oper, diverse Ausstellungen und Konzerte in neun Tagen – und ergänzte thematisch hervorragend die Frankfurter Buchmesse, deren Schwerpunkt der Subkontinent Indien im Oktober sein wird. Dass Indien in Mode gekommen ist, kann man an den Besucherzahlen ablesen: Die gestern zu Ende gehende Biennale schlug mit einer Auslastung von rund 73 Prozent das Vorgänger-Festival (Thema: New York) um Längen. Nun ahnt man, dass der Bollywood-Kult bei weitem nicht alles ist: Denn es gibt in Indien auch so etwas wie politisch-dokumentarisches Theater.

Das Stück „16 mm“ des Autors und Regisseurs Sangram Guha aus Kalkutta basiert auf der wahren Tatsache, dass das indische Parlament in Delhi 2001 von Terroristen überfallen und ein Universitätsprofessor als Mittäter beschuldigt wurde. Erst nach langen Widerständen und Recherchen einer engagierten Anwältin wurde klar, dass die bei den Terroristen gefundenen Handys ihn nicht belasten. Er wurde in letzter Sekunde freigesprochen, der wahre Täter „16 mm“ jedoch nie gefunden.

Auf der Bühne sehen wir einen boulevardhaften Dokukrimi mit treibender Musik, aufgeregte Demonstrationen und Treffen von indischen Politik-Gruppierungen, der jedoch bald zu einer trockenen Fernseh-Gerichtsshow wird. Auf bunten Kisten verhandeln ein als Staatsbeamter getarnter Terrorist und die schöne Anwältin im knallroten Sari verwirrend und langatmig über Handy-Rechnungen, Decknamen und Codewörter.

Das Stück war in Indien eine Sensation, weil es Korruption und politische Machenschaften der staatlichen Terrorismusbekämpfung aufdeckte – über 60-mal gespielt, vor jeweils 2.000 Zuschauern – auch wenn es den unkundigen Westler etwas ermüdet zurücklässt. Sangram Guha, ein schmaler Mann mit glühenden Augen und Vollbart, hat aber auch schon Stücke über Foltermethoden in Abu Ghraib und die nukleare Aufrüstung Indiens inszeniert. Er bezeichnet sich eher als „Erforscher des Terrorismus“ denn als Theatermann. „Ich bin die einzige Person in Indien, die der Gesellschaft diese Fragen stellt“, meint er, den seine Inszenierung auch für zwei Monate ins Gefängnis brachte.

Die Regisseurin Anuradha Kapur aus Delhi spricht dagegen von etwa 20 politisch-kritischen RegisseurInnen, die es heute in Indien gibt. Besonders seit 1992 die rechte hinduistische Regierung an die Macht kam, blühe das politische Theater auf. In ihrer Inszenierung „Kentauren“ werden Texte von Heiner Müller mit dem Buch „Guter Moslem, böser Moslem“ von Mahmood Mamdani konfrontiert: Ein Mann, als moderner Hindu mit Sonnenbrille und Rollerblades zu erkennen, sitzt mit einer in der Brille eingebauten Live-Kamera an einem Tisch, überwacht und foltert einen anderen, fürsorglich und bedrohlich zugleich. Der andere, ein zitternder Muslim, argumentiert vergeblich gegen seine vermeintliche Schuld, während eine Stimme aus dem Off die Opfer des Irakkriegs aufzählt. Totale Überwachung im Namen der Terrorismusbekämpfung, Hindu gegen Muslim – das sind laut Kapur Grundkonflikte der indischen Gesellschaft. Sie will mit ihrem Stück gegen die vereinfachte Sicht auf die vermeintlich „Unzivilisierten, Vormodernen“ vorgehen, die sich nach dem 11. September verbreitet habe, gegen den von Medien erzeugten Generalverdacht gegenüber Männern mit Bärten und muslimischen Kappen, gegen eine hinduistisch geprägte Sicht, in der „gute“ indische Bürger eben vor allem nach Westen orientiert seien.

Dass modernes indisches Theater auch ohne aktuelle politische Bezüge gesellschaftliche Tabuthemen angeht, zeigte „Othello – A play in black and white“ der Indien Shakespeare Company. In einer Theatergruppe, die Othello probt, bricht Zank aus, weil Othello von einem dunkelhäutigen, cholerischen Außenseiter gespielt wird, der auch noch der Hauptdarstellerin nachstellt. Wie schnell können Eifersucht und Angst vor dem Fremden zu selbst erfüllenden Prophezeiungen werden – das ist wohl nicht nur in Indien so.