: Verschlissen bis zur Unbrauchbarkeit
UNSICHERHEIT Wie normal ist die Prekarität? Das fragten sich in Frankfurt Soziologen und Autoren
„Normal prekär?“, lautete die Frage, die eine vom Frankfurter Institut für Sozialforschung (IfS) und dem Hessischen Rundfunk organisierte Diskussionsrunde zum Thema „Zeitbrüche – Diagnosen der Gegenwart“ beschäftigte. Es diskutierten Stefanie Hürtgen, Stephan Voswinkel (beide vom IfS), der Soziologe Berthold Vogel und die Autorin Tanja Dückers unter der Leitung von Peter Kemper.
Einig war sich die Runde darüber, dass sich die feuilletonsoziologischen Modewörter „prekär“, „Prekarität“ und „Prekariat“ bereits bis zur Unbrauchbarkeit verschlissen haben. Das gilt insbesondere für die Analogie „Prekariat“/„Proletariat“, denn es geht nicht um eine homogene, sondern um verschiedene soziale Gruppen, die nicht mehr in Normalarbeitsverhältnissen mit gesichertem Lohn, sozialer Absicherung, geregelter Arbeitszeit und planbarer Zukunft beschäftigt sind. Eine beschränkte Geltung sprach Voswinkel indes dem Begriff „Prekarisierung“ zu, weil dieser zumindest eine empirisch nachweisbare gesellschaftliche Tendenz beschreibe. In vielen Betrieben arbeiten neben „normal“, also fest, Beschäftigten Zeitarbeitskräfte, Leiharbeiter, Praktikanten, Werkvertrags- und Projektangestellte.
Berthold Vogel warnte zu Recht vor dem Kurzschluss, die Beschäftigung unter prekären Bedingungen sei bereits zum Normalarbeitsverhältnis geworden. Richtig ist vielmehr, dass sich insbesondere in der Mitte der Gesellschaft neue Konfliktlagen herausgebildet haben – nämlich zwischen fest und prekär Beschäftigten. Dabei können sich die fest Beschäftigten angesichts der Billigkonkurrenz durch die „Prekären“ davor ängstigen, demnächst auch in den Status prekär Beschäftigter abzudriften. Andererseits profilieren sich flexible und rund um die Uhr verfügbare prekär Beschäftigte – weniger in der Realität als in der plakativen Feuilletonsoziologie von Sacha Lobo und Holm Friebe oder in der Kreativwirtschaftsprosa – gern als neue Avantgarde gegen die „Festen“.
Die junge Politikwissenschaftlerin Stefanie Hürtgen benannte den politischen Kern der Debatte, der oft im Nebel von „Autonomie“ oder „selbstständiger Arbeit“ verschwindet. Zunächst geht es bei der Diskussion um Prekarität darum, was heute und in Zukunft als „Normalität“ gelten und also zur politisch, rechtlich und sozialstaatlich definierten Norm werden soll. Was kann abhängig Arbeitenden zugemutet werden gegen Sicherheit, Wohlstand und Planbarkeit, die sie als Bürger erwarten. Und welche Ansprüche haben nicht arbeitende Bürger? Stefanie Hürtgen beschrieb diese politischen Kernprobleme der Arbeits- und Lebensverhältnisse mit dem Hinweis auf einen Konflikt in Frankreich im Jahr 1995. Damals streikten Angehörige des öffentlichen Dienstes, allen voran die Eisenbahner, nicht für Lohn allein, sondern für ihre Lebensverhältnisse und die ihrer Kinder.
Der Konflikt spaltete die ganze Gesellschaft, die Politik und die Sozialwissenschaft. Neoliberale Politiker, fast alle Medien und modernisierungsgeblendete Sozialwissenschaftler wie Alain Touraine warfen den Eisenbahnern vor, nur für „ihre Privilegien“ zu streiken. Diese „Privilegien“ bestanden in einem sicheren Arbeitsplatz für einen Knochenjob im Schichtdienst, in einem kargen Lohn (weniger als 1.000 Euro in heutiger Währung!) und einer relativ frühen Verrentung. Einzig Pierre Bourdieu stellte sich gegen diese konformistische „pensée unique“ (etwa „Normalitätsdenken“) auf die Seite der Eisenbahner und klärte die Öffentlichkeit in einer grandiosen Rede im Gare de l’Est, im Fernsehen und in Zeitungsartikeln über den Unterschied zwischen Privilegien und berechtigten Ansprüchen auf.
Stefanie Hürtgen verlor sich nicht in der Scheinalternative „prekäres“ oder „normales“ Arbeitsverhältnis. Ihr ging es darum, wie Normen für Arbeitsverhältnisse politisch ausgehandelt werden, die veränderte demografische, ökonomische und sozialstaatliche Voraussetzungen berücksichtigen, aber das neoliberal orchestrierte Requiem auf den Nexus von Arbeit und Emanzipation nicht mitsingen. RUDOLF WALTHER