AM MEHRINGDAMM : Wieder zu spät
Manchmal glaube ich, als der liebe Gott den Orientierungssinn verteilt hat, war ich gerade woanders. Gestern sollte ich um 19 Uhr im BKA Theater sein. Als ich zwanzig nach sieben am Mehringdamm aus der Bahn stieg, stand ich vor demselben Problem, dem ich immer begegne, wenn ich U-Bahn fahre: Ich hab keine Ahnung mehr, wo vorne und wo hinten ist. Deshalb habe ich natürlich auch den Ausgang genommen, der am allerweitesten vom Zielort weg war.
Um ihn zu finden, habe ich mich langsam um die eigene Achse gedreht, bis mir zwischen den Zweigen eines Baumes auf dem Mittelstreifen das blau-weiß-rote Schild entgegenleuchtete. „Da muss ich hin!“, freute ich mich und stellte mich an die rote Ampel, als von links mit lautem Klingeln eine Fahrradfahrerin kam und gegen einen Mann fuhr, der mitten auf dem Radweg stand. Erst kippte sie um, dann kippte er um.
„Alles in Ordnung?“, habe ich gefragt, die junge Frau ist gleich wieder aufgestanden und hat dankbar „Ja, ja“ gesagt. Der Mann aber saß immer noch auf dem Radweg, und aus der Nähe konnte man sehen, dass seine Augen in verschiedene Richtungen guckten. „Der hat auch Orientierungsprobleme“, dachte ich, und er lallte: „Sie hadde Rot!“ „Nein, hatte sie nich“, korrigierte ich ihn. Er ließ sich nicht beirren: „Sie hadde Rooot!“
Sein Kumpel half ihm auf die Beine. „Christoph“, sagte er, „die Frau hat recht, du bist zu früh losgegangen!“ „Ro-hoot!“, lallte Christoph. Die Radfahrerin fuhr weiter, und ich bin mit Christoph und seinem Kumpel bei Grün über die Ampel. Als wir auf der anderen Seite waren, schlingerte Christoph zu mir rüber: „Wie heissndueinglisch?“ „Lea“, sagte ich. „Würdischgernkennlern!“ „Geht nich, Christoph, ich hab zu tun.“ Es war neunzehn Uhr dreißig, als ich oben ankam. „Das glaubt mir doch eh wieder keine Sau, warum ich diesmal zu spät bin“, dachte ich. LEA STREISAND