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Archiv-Artikel

„Ich bin die Kunst, Oma“

Ulrike Bodammer und Frank Willens sind Teil des choreografischen Kunstwerks „The Kiss“. In einem alten Ballhaus küssen und umarmen sie sich vor Publikum zwei Stunden am Stück, mehrmals die Woche. Ein Gespräch über Lippenherpes, aufgestaute Aggressionen und Intimität vor der Großmutter

Interview Nina Apin

taz: Frau Bodammer, Herr Willens, wie würden Sie Ihren aktuellen Job auf der Biennale beschreiben?

Frank Willens: (lacht) Küssen?

Ulrike Bodammer: Unsere Freunde wissen mittlerweile, was es heißt, wenn ich sage: „Wir gehen zur Arbeit.“ Das heißt soviel wie: „Wir küssen uns.“

Wie geht es Ihren Lippen nach zwei Monaten Dauerknutschen?

Willens: Eigentlich sehr gut. Nur einmal dachte ich, ich hätte einen Herpes. Da haben wir einen Tag die Küsse nur vorgetäuscht, nach Hollywood-Art. Zum Glück war nichts. Bei anderen Paaren gab es aber schon Lippenentzündungen und Herpes. Das ist natürlich besonders unangenehm, wenn die beiden privat gar nicht zusammen sind. Da hilft dann nur: Haare übers Gesicht fallen lassen und dahinter nur so tun, als ob.

Haben Sie Sich gezielt für den Kussjob beworben?

Willens: Eine Choreografin, mit der ich schon einmal gearbeitet hatte, rief mich an. Als sie mir das Stück beschrieb, sagte ich erst mal: Oh, da muss ich meine Freundin fragen. Aber Ulrike ist auch Tänzerin, sie fand die Idee super und wollte mitmachen.

Sie sind also auch privat ein Paar. Hätten Sie es auch mit jemand anders gemacht?

Willens: Nur, wenn ich Single wäre. Obwohl, wenn Ulrike woanders engagiert wäre, vielleicht schon.

Bodammer: Aha. Ich würde es nur mit jemandem machen, den ich wirklich sehr gut riechen kann – so wie dich, Frank.

Wie sieht denn Ihr Arbeitstag aus?

Bodammer: Eine Schicht dauert exakt zwei Stunden und zwanzig Minuten. Auf die Uhr schauen wir dabei nicht. Aber wenn das nächste Pärchen im Saal steht und langsam anfängt, sich zu küssen, wissen wir, dass unsere Zeit um ist.

Wie genau ist die Choreografie, an die Sie Sich halten müssen?

Bodammer: Es sieht spontan aus, aber alle Bewegungen sind genau festgelegt. Wir haben sie zusammen mit dem Künstler Tino Seghal einstudiert. Wir umrunden den Raum, wobei wir uns sternförmig von der Raummitte nach außen und wieder zurück bewegen. Diese Runde wiederholen wir, bis die Zeit um ist. In unserem jetzigen Tempo kommen wir fünfmal rum.

Hat sich das Dauerknutschen vor Publikum auf Ihre Beziehung ausgewirkt?

Bodammer: (lacht) Wir küssen uns auf jeden Fall noch viel mehr als früher!

Willens: Mit Knutschen in der Öffentlichkeit hatte ich früher große Probleme. Durch den Job fällt mir das jetzt viel leichter.

Können Sie Ihre privaten Gefühle komplett von der Performance trennen?

Bodammer: Manchmal würden wir uns am liebsten die Kleider vom Leib reißen! Oder aber die Haare ausreißen, weil wir uns in dem Moment unheimlich auf die Nerven gehen.

Willens: Es gibt ein paar Stellen in der Choreografie, wo man sich unbemerkt Dinge zuflüstern kann wie: „Ich hab Hunger“, oder: „Aua, meine Haare!“

Kostet es Sie Überwindung, so intim vor Publikum zu sein, oder entwickelt man da eine gewisse Routine?

Bodammer: Am Anfang mussten wir uns noch sehr stark auf die Choreografie konzentrieren, da irritierten uns die Menschenmassen bei der Eröffnung sehr. Aber mittlerweile sind wir völlig bei uns, wie in einer Meditation.

Was bringt Sie aus der Fassung?

Bodammer: Wenn wir in alberner Stimmung sind und jemand im Publikum eine komische Frisur hat, kriegen wir manchmal regelrechte Lachanfälle. Aber die kann man gut hinter den Haaren verbergen.

Willens: Die Hölle ist es, wenn man pinkeln muss und weiß, das geht jetzt noch eine Stunde. Dann ist die Konzentration weg. Genauso wenn ein Freund im Publikum auftaucht und komische Gesichter macht.

Wie nah kommt Ihnen das Publikum eigentlich?

Bodammer: Die meisten halten große Distanz und betrachten uns vom Rand des Saals aus. Ganz nah kommen nur wenige, meistens Kinder. Das ist dann ein sehr intensives und schönes Gefühl. Manchmal lassen sich auch Paare von uns inspirieren und fangen auch an, sich zu küssen.

Willens: Und manche verstehen nicht, was das Ganze überhaupt soll. (lacht)

Worüber lachen Sie?

Willens: Ich denke an meine Oma, die aus Los Angeles zu Besuch kam und uns zuschaute. Hinterher fragte sie mich: „Und wo war jetzt die Kunst?“ Sie dachte, der Künstler Tino Seghal sei ein Maler, und suchte vergebens nach Bildern. Aber als ich ihr erklärt habe, dass wir die Kunst sind, kam sie zweimal wieder, um uns küssen zu sehen.

Haben Sie Besucherreaktionen schon mal richtig aus dem Konzept gebracht?

Bodammer: Manchmal applaudieren welche, oder sie sprechen uns an, aber in der Regel antworten wir nicht. Neulich rief eine Schülergruppe: „Ausziehen! Ficken!“ Aber das amüsierte uns eher.

Willens: Einmal waren wir abends allein im dunklen Saal. Nur ein einzelner älterer Mann stand ganz bewegungslos da und schaute uns an. Ich war erleichtert, als nach einer halben Stunde endlich der Hausmeister das Licht anmachte und zusperrte.

Schauen Sie Ihren Kollegen zu?

Willens: Ja, es ist toll, wie unterschiedlich die gleiche Choreografie bei verschiedenen Leuten aussieht. Da kommt wirklich die Persönlichkeit durch: Manche sind sehr ernst, manche langsam … tänzerisch sehr interessant.

Würden Sie es wieder tun?

Bodammer: Klar, ist doch ein super Job: Wir können tanzen und uns küssen und kriegen auch noch Geld dafür.

Willens: Ich könnte mir nicht vorstellen, das 20 Jahre lang jeden Tag zu machen. Aber für die Dauer der Biennale ist es perfekt – und wir mögen uns noch genauso gern wie vorher!