: Besuch in der Gefahrenzone
Der PDS-Politiker Sayan wurde im Lichtenberger Weitlingkiez niedergeschlagen. Auf den ersten Blick ist die Gegend völlig unauffällig. Doch der Kiez ist eine bekannte Hochburg von Rechtsextremisten
von FELIX LEE
Eine Zone der Angst vor Rechtsextremisten muss anders aussehen. Da dürfte es doch eigentlich keine glänzend polierten Schaufenster von bunt dekorierten Boutiquen geben. Auch der kleine Buchladen passt nicht so recht ins Bild. Und Dönerbuden mitten in einem Nazikiez?
Wer an einem sonnigen Vormittag vom Bahnhof Lichtenberg aus die Weitlingstraße entlanggeht, der wird sich nicht vorstellen können, was hier nach Sonnenuntergang los ist. „Ich gehe abends nicht mehr auf die Straße“, sagt die 73-jährige Elisabeth Garner. Sie lebt seit vielen Jahrzehnten im Kiez. Natürlich hat sie auch von den rechtsextremistischen Übergriffen gehört. Aber das sei nicht der Grund. „Die kommen von überall her und landen am Bahnhof Lichtenberg.“ Sie spricht von „Besoffenen und Ausländern“.
Seit ein paar Jahren gibt es nicht nur in der ostdeutschen Provinz Orte, an denen sich Neonazis besonders wohl fühlen können. Auch Berlin hat seine „Nazikieze“. Dazu gehören Straßenzüge in Treptow, der Stadtteil Schöneweide, einige Häuserblocks um den U-Bahnhof Rudow – und vor allem der Weitlingkiez.
„Im Moment ist diese Gegend der absolute Schwerpunkt rechter Nazi-Aktivitäten“, sagt Falco Schuhmann vom Antifaschistischen Pressearchiv (Apabiz), ein Kenner der rechten Szene. Neonazis der gesamten Stadt würden hierher ziehen. Es gibt die Kneipe „Kiste“, das „Picollo“, den vor einem Jahr eröffneten Tattoo-Laden „Ostblock“, eine Wohngemeinschaft ehemaliger Mitglieder der vor einem Jahr verbotenen „Kameradschaft Tor“. „Die Neonazis sehen die Weitlingstraße als ihren Kiez“, sagt Schuhmann.
Bereits vor einem Jahr warnte die Antifa Friedrichshain: „Wenn jeden Tag neue faschistische Parolen an den Häusern auftauchen, Neonazis in größeren Gruppen unterwegs sind und keine Angst vor den Anwohnern haben müssen, dann hat das auch für alle spürbare Auswirkungen.“ Im Weitlingkiez scheint den Neonazis das gelungen zu sein: Sie sind zur Normalität geworden. Keiner der Anwohner stört sich an ihnen.
Keiner? Nguyen Ngy* aus Vietnam hat in der Weitlingstraße ihre Eisdiele. Aber sie wohnt woanders. Tagsüber hat sie hier keine Angst. Über die Weitlingstraße bei Dunkelheit möchte sie nicht sprechen. „Ich will mit Politik nichts zu tun haben.“ Der benachbarte Blumenladen, ebenfalls von einer Familie aus Vietnam betrieben, wurde vor einem Monat von Neonazis demoliert.
Die Weitlingstraße ist Neonazis bundesweit ein Begriff. Es waren nicht nur linke Hausbesetzer, die in der Wendezeit die quasi rechtsfreien Zustände im Ostteil nutzten. Im Frühjahr 1990 kam es zu den ersten Hausbesetzungen durch Neonazis: in der Weitlingstraße. Fast alle rechtsextremen Aktivitäten der Folgemonate gingen auf das besetzte Haus zurück.
Der Bezug der heutigen Neonazis zu den Besetzerzeiten von damals ist gering. „Die Weitlingstraße genießt bei den Neonazis einen legendären Ruf“, sagt Falco Schuhmann. Von direkten personellen Überschneidungen sei jedoch nichts bekannt. Das seien alles Strukturen, die erst in den vergangenen Jahren entstanden seien.
Von „No-go-Area“ möchte er beim Weitlingkiez dennoch nicht sprechen. Dieser Begriff würde den Neonazis einen Erfolg zuschreiben. „Nach unserer Definition ist die Weitlingstraße ein gefährlicher Ort. Man sollte sich nachts dort nicht aufhalten“, sagt Schuhmann. Nicht mehr und nicht weniger.
* Name geändert