Der Motor des Disparaten

Eigentlich ist das, was man Parallelgesellschaft nennen könnte, auch in einem selbst drin: Über Fernsehgebisse, Bürgerkinder, Deutschlandfähnchen, Vertriebeneneltern und türkische Zeitschriftenläden. Nachrichten aus dem gelungenen Leben

VON DETLEF KUHLBRODT

„Ein Bürger ist ein Mensch, der anders denkt als ich“ (Jules Renard, „Der Schmarotzer“, 1892)

Die Gesellschaft besteht aus vielen Parallelgesellschaften, die sich nur hier und da begegnen: Arbeitnehmer, Arbeitslose, Intellektuelle, Junge, Alte, Schwule, Lesben, Behinderte, Drogensüchtige, Alkoholiker, Städter und Ländler, Ostler und Westler, Sensible, Deppen, Kluge, Dumme, Männer, Frauen; komische Haare, komische Hemden, Leute, die kein Fernsehen gucken, und Leute, die viel Fernsehen gucken, Leser und Nichtleser, und als ich gestern Abend in den Fernseher guckte, war da eine liebe Exfreundin drin, die komischerweise genauso aussah wie in echt, also nicht so wie viele andere, von denen man den Eindruck hat, sie seien in den Fernsehapparat eingesperrt worden und wollten da unbedingt wieder raus. Oft meint man ja, ein nur schlecht kaschiertes verzweifeltes Flehen in den Augen der Leute im Fernsehapparat zu spüren. Nicht nur bei den Post-Big-Brother-Formaten, sondern überall. Gerade hatte man den einen oder anderen noch in echt gesehen, ein paar Meter von einem weg, alles schien normal – die Welt ist schlecht, und wir sind prima! –, dann hatte man den Fernseher angemacht und gedacht: Oh je, was haben sie nur mit dir gemacht; sie haben dir eine Idiotenfrisur verpasst, ein komisches Kostüm angezogen, die lustigen alten Zähne rausgebrochen und dir ein Gebiss wie von der Zahnpastapackung eingesetzt. Nun siehst du aus wie alle anderen, und keiner sieht dich mehr. Und dann sagst du mit Ende 40, alles, was du bislang gedacht hast, sei nur so gewesen, weil deine Eltern das Gegenteil gemacht, gedacht und gefürchtet hätten.

Wenn ich in Berlin spazieren gehe, begegne ich vielen Parallelgesellschaften, von denen ich oft wenig weiß: den deutschen Trinkern in ihren, wie man hört, vom Aussterben bedrohten Eckkneipen, in die ich nicht gehe, wie ich auch nicht in die farblich hübsch gestalteten türkischen Männercafés gehe (oder nur einmal mit einem türkischen Freund zum Domino, das war prima, so anerkennungstechnisch!) und die angeblich schicken Cafés und Restaurants am Gendarmenmarkt meide. Am Kottbusser Tor stehen die Junkies in ihren Jeans- und Freizeitanzügen und trinken Bier. Trotz ihres Elends machen sie einen recht fidelen, kommunikativen Eindruck und bemühen sich, nicht unangenehm aufzufallen.

Neulich lief ich mit einem cowboyhaft zurechtgemachten Junkie ein paar hundert Meter zusammen, und er lobte die ganze Zeit mein Fahrrad, und als ich mich dann am Junkietreffpunkt von ihm trennte, kam ein anderer, der auch wieder mein Fahrrad lobte, obgleich es sicher so toll auch nicht ist. Irgendwie funktionierte mein Fahrrad wie ein kleiner Hund, und schnell fand ich neue Freunde.

Am Kottbusser Tor läuft eine linke Demo – gegen Hartz IV, glaube ich – durch die Gegend. Es sind vielleicht 200 Demonstranten und ebenso viele Polizisten. Die Demonstranten befürchten unter anderem, dass Kinder bis 35 noch bei ihren Eltern wohnen werden müssen wegen der Gesetze. Weil die Demonstration als Teil einer machtvollen internationalen Bewegung wahrgenommen werden will, spricht die Frau am Megafon ihren Text auf Englisch. Ihr Englisch ist schlecht. Die Veranstaltung kommt mir traurig vor. Später bleibe ich am Fußballplatz stehen und schaue den Spielern zu; es sind vor allem Migranten der zweiten Generation schätzungsweise, also Berliner wie ich.

Eigentlich ist das, was man Parallelgesellschaft nennen könnte, ja auch in einem selbst drin. Wenn man sich in Sachen hineinsteigert und das, was eben noch zu passen schien, plötzlich fremd und peinlich wirkt – eine Begeisterung, eine Verliebtheit, Paranoia oder ein Rausch. Viele teilen sich ja auch in Parallel-Ichs wie die Freunde, die in der Woche superclean sind, nicht mal rauchen, um sich am Wochenende umso effektvoller wegschießen zu können. Und eigentlich geht es nicht um Teilung, sondern darum, das Disparate in sich selbst wie einen Motor zu integrieren.

Viele meiner Freunde definieren sich über ihre mehr oder weniger politischen, kulturellen, sexuellen oder anderweitig minoritären Interessen, über ihre Abweichungen vom Mainstream. Sich tatsächlich über den Mainstream zu definieren geht ja nicht; da kann man ja nur mitschwimmen. Es ist jedenfalls schon komisch, wie das manchmal zum Ausdruck kommt: Im letzten Jahr hatte A. noch einen Kellner beschimpft, weil der ihm das Grasrauchen im Café verboten hatte; nun auf dieser Party im postalternativen Umfeld hatte er so einen komischen Anzug an wie aus dem Fernsehen und provozierte mit kleinen Deutschlandfähnchen zum Anstecken, die er sich auf irgendeiner FDP-Veranstaltung eingesteckt hatte. Vor kurzem war er in eine Firma gewechselt, die sehr gut bezahlt, in unseren Kreisen allerdings ein schlechtes Image hat. Gehaltsmäßig war er sozusagen in der Klasse seiner Eltern angekommen oder auf dem Weg dahin. Er spielte mit einem neokonservativen Image oder brachte es zur Aufführung. Selbst die extreme Akkuratheit, mit der er seine Joints drehte, wirkte performativ. Ein via 68 sozialisierter Freund, ein Identitätslinker, dessen Eltern ebenfalls aus der „Oberklasse“ kamen und der immer in „guten“ Stellungen (viel Geld, wenig Freizeit), allerdings immer noch im Wie-auch-immer-linken Umfeld, gearbeitet hatte, fand das mit den Deutschlandfähnchen doof. Das gehörte sich ja nun wirklich nicht. In seinem Kopf waren selbst Schlipse quasi omnapoetische Essenzen, Zeichen der Reaktion.

Beide sind Freunde, die mir oft geholfen haben, und eigentlich sind, glaube ich, Anführertypen unterschiedlicher Weltanschauung einander ähnlicher als Anführer und „Mitläufer“ gleich lautender Meinung. Und als Nichtanführermensch ist es oft auch ganz schön, Freunde zu haben, die immer gleich wissen, wohin es geht, und eben nicht so lange bedenklich zögern und zaudern in komischen Städten.

Meinungen sind eine schlechte Heimat, und die Post-68er-Linke war letztlich auch nur eine Fraktion innerhalb der Raucherecke.

Die Pointe bei der Bürgerlichkeitsdiskussion wäre, dass es halt nicht mehr schick ist, als „Bürgerkind“ (wie es eine Weile mit verächtlichem Unterton in der Stimme hieß, wobei immer jedem unterstellt wurde, Bürgerkind zu sein) eine antibürgerliche Ideologie zu vertreten, sondern dass junge Bürger nun anfangen – noch etwas posenhaft übertrieben zunächst –, zu ihrer Bürgerlichkeit zu stehen, und dass die, die hoffen, in eine gesicherte Bürgerlichkeit zu wechseln, schon mal das Gleiche machen. Und ständig hat man ja auch das Gefühl, als sei man plötzlich in der Welt verängstigter Elternwerte angelangt, als würden die Leute tatsächlich glauben, es sei im Leben das Wichtigste, irgendeine bescheuerte Führungsstellung zu erreichen, viel Geld zu verdienen, etwas zu bewegen. Überall nur diese idiotischen Chefwerte.

Wobei … ach, egal.

In der Vielfalt meines Bezirkes fühle ich mich wohl; wenn ich dagegen in ost- oder westdeutsche Städte mit geringem Ausländeranteil fahre, fühle ich mich unsicher. Meinen Eltern ging’s immer umgekehrt. Fremde waren für sie schon Menschen, die nicht blutsverwandt waren. Nicht dass sie etwas gegen Fremde gehabt hätten – sie freuten sich über meine nichtdeutschen Freunde, fühlten sich nur schnell verunsichert, weil sie sich als Kriegskinder in einer neuen Stadt so fremd gefühlt hatten. So dachte ich mir das. Und einmal war ich auch mit dabei gewesen, als meine Mutter mit Freundinnen aus ihrer „Heimat“ Kaffee trank. Sie waren als Kinder vertrieben, verschleppt und misshandelt worden und wirkten sehr nett bei Kaffee und Kuchen. Es kommt mir immer noch unglaublich vor, wie herabsetzend jahrelang über diese Kriegskinder gesprochen worden war, andererseits hatte das auch seine psychosoziale Logik, die anders war als das, was gemeint wurde zu denken.

Manchmal hänge ich in dem Tabak- und Zeitschriftenladen eines jungen Türken herum, weil’s hier gemütlicher ist als in dem „deutschen“ Tabakladen. Irgendwie fühle ich mich in diesem kleinen Laden heimischer, habe das Gefühl, die stehen mir näher, sind nicht so verkrampft wie ihre Kollegen in dem deutschen Konkurrenzgeschäft, hören, glaube ich, gute Musik (wie ich meine zu hören), und wenn ich Zigaretten und Blättchen verlange, schauen sie freundlich verstehend.

Ich hab nichts gegen den deutschen Tabakladen, den ich schon hundert Jahre kenne; nur dass hier vor allem Deutsche hingehen, stört mich etwas. Irgendwie fühlt man sich unsicher unter lauter Deutschen, die im Einzelnen letztendlich natürlich auch nicht anders sind als man selbst.

Im Prinzip freut man sich sogar auf die WM; nur graut einem vor den Gesängen der deutschen Fans: „Steh auf, wenn du ein Deutscher bist“.

Die Luft war ja plötzlich so sanft, und ich dachte an ein Früher, in dem ich einmal zu Hause gewesen war. Ich hatte Gedichte von Han Shan gelesen, oder wir hatten da auf dem Boden gesessen in diesem kleinen Früher-Zimmer, Tee getrunken, bis wir schwitzten, hatten Musik gehört und über Bücher gesprochen in diesem Frühling. Eigentlich hatten wir davon geträumt, zu sein wie Jack Kerouac, und waren dann enttäuscht gewesen, als wir hörten, das der Beatnik schon längst tot und als patriotischer Alkoholiker gestorben war.