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Archiv-Artikel

Die braune Gefahr

Wenn uns die Natur ihrer Unberechenbarkeit wegen anzieht,so heißt das freilich nicht, dass wir sie nicht berechnen wollen

„Der Bär tat gut daran, Vorarlberg in Richtung Tirol zu verlassen“, berichtete Doris Knecht, Österreichs beste und schrägste Kolumnistin, unlängst aus dem westlichsten Zipfel der kleinen Alpenrepublik. „Der Stolz, den Touristen nun auch einen Braunbären als Attraktion anbieten zu können, wurde unmittelbar von der Angst um die Vollständigkeit der Touristen abgelöst. Schon nach Stunden wurde das Verhalten des Bären als bärenuntypisch eingeschätzt; man lud bereits die Gewehre.“ Es ist wie immer in solchen Fällen: Je näher man der Natur ist, man weiß sie nicht richtig zu schätzen – man liebt sie auf Distanz. Dass der Bär Schafe reißt, bekümmert vor allem die Besitzer von Schafen. Besonders beliebt sind Bären dagegen bei Städtern, die nicht in Gefahr geraten, von einem Prankenhieb aus dem Leben befördert zu werden.

Jetzt ist er also nach Bayern eingewandert: JJ2, zweieinhalbjähriges Jungtier, benannt nach seinen Eltern, José und Jurka, dem Trentino entstammend, über Vorarlberg und Tirol nach Bayern geraten. Ausgewachsen kann der europäische Braunbär zwei Meter groß und 250 Kilogramm schwer werden – damit ist er recht schmächtig, verglichen mit seinem nordamerikanischen Artgenossen, der es auf bis zu 700 Kilogramm bringen kann.

JJ2 – wenn er es denn tatsächlich ist –, ist der erste Braunbär auf deutschem Gebiet seit 170 Jahren. Sieben Schafe hat er in Bayern gerissen. In Österreich gibt es schon wieder zwanzig bis dreißig Braunbären. Dass es JJ2 auch unter dieser Population in den vergangenen Wochen zu einiger Berühmtheit brachte, hängt damit zusammen, dass „das liebe Viecherl“ (so ein Bärenexperte) bärenuntypisch unscheu ist. Er ist dem Menschen gegenüber regelrecht frech, kommt ihm nahe, was das Konfliktpotenzial erhöht.

Jetzt ist also Bärenalarm in Deutschland. Verwirrung in den Nachrichtenredaktionen, die schon ganz auf die Fußball-WM eingestellt waren: ein bäriges Thema, das die Leute draußen mehr elektrisiert als Klinsis Truppe, und das am flachen Land mehr Unsicherheit verbreitet als polnische Hooligans. Die Marketingspindoktorenhirne rauchen schon: Ist das mal eine ganz neue „braune Gefahr“, die uns das sportliche Großereignis kaputt machen kann, oder lässt sich JJ2 gar als lebendiges Maskottchen instrumentalisieren? Wie lassen sich Bärenwahn und Fußballfieber kombinieren in einer Zeit, die keine Aufmerksamkeit für mehr als ein Thema aufbringen kann?

Abseits von solchen Problemen ist der Einbruch des Wilden in die Zivilisation natürlich von jeher das ergiebige Thema schlechthin. Die Sehnsucht nach der Unsicherheit, nach dem elementaren Ereignis, nach dem Risiko ist schließlich nur die Rückseite des Strebens nach Sicherheit. Vom Blitz getroffen, von Bären gefressen, vom Baum erschlagen – dies sind die wohlig-schauerlichen Beweise, dass das Schicksal auch in Zeiten der Vollkaskoversicherung und Hochleistungsmedizin nicht völlig in Technik aufgelöst und neutralisiert worden ist.

Dass die Natur noch Schrecken bereithält, ist seltsamerweise nichts, was nur als bedrohlich wahrgenommen wird, sondern auch ein Beweis, dass es da noch so etwas wie „Leben“ rund um uns gibt. Leben wird so implizit gleichgesetzt mit einer natürlichen Unberechenbarkeit – wo alles berechenbar ist, wo statt Natur die Kultur herrscht, da ist auch kein Leben drin, so der subkutane Konsens. Menschen haben, um der Langeweile der Sicherheitszonen zu entkommen, ganze Weltkriege angezettelt.

Die Suche nach dem Gefährlichen, dem Kick, lässt Teens auf S-Bahnen surfen und bringt Leute wie Frank Castorf dazu, „ein neues Stahlgewitter“ zu wünschen, damit die Fadesse ein Ende nimmt.

Wer vom Bären gefressen wird, der hat zumindest noch einmal etwas erlebt. Wobei die Moderne natürlich, und das lieben wir an ihr, uns nicht mehr die pralle Unberechenbarkeit bietet, sondern die berechenbare Unberechenbarkeit, die kulturalisierte Natur. Welch schönes Exempel ist dafür ein Bär, der mit dem grotesken, von Biologen erdachten Namen JJ2 durch Wälder und Almen streift, dessen Existenz auf ein Wiederansiedlungsprogramm zurückgeht!

Wunderbar, was menschlicher Erfindungsreichtum sich auszudenken vermag, um die riskante Natürlichkeit mit unserem Sicherheitsempfinden zu versöhnen: In Österreich gibt es schon „Bärenanwälte“, offiziell bestellte Experten, um die örtliche Bevölkerung, die um ihre Sicherheit und die ihres Viehs bangt, mit der Bärenpopulation auszusöhnen – von der Art der Mediatoren, die Nachbarschaftskonflikte lösen sollen.

Dass hier überhaupt berechtigte Ansprüche, die in Konflikt geraten können, unterstellt werden, ist auch so eine Aporie unseres Naturverhältnisses. Je mehr Natürlichkeit, so die implizite Annahme, umso gesünder für uns Menschen – mag da auch gelegentlich die Empirie entgegenstehen. Die Anwesenheit des Bären, selbst wenn sie im Extremfall eine konkrete Gefährdung darstellt, wird so zumindest im Prinzip als lebensverlängernd gesehen – denn wo Bären sind, da ist das Biosystem in Ordnung, und wo die Natur intakt ist, stirbt man nicht so leicht an Zivilisationskrankheiten. Es ist dies ein argumentativer Mechanismus, ähnlich dem, der den Kleingärtner, der sich ansonsten um die Makellosigkeit seines Rasen sorgt, den Maulwurf begrüßen lässt: Dessen Existenz, schlussendlich, ist ja ein Beweis für das biologische Gleichgewicht auf der Parzelle.

So ist der Bär, dessen Rückkehr in unsere Zivilisation wir feiern wie zuletzt übrigens die des Wolfes, eine Allegorie der Natürlichkeit. Hierzu taugt er hervorragend: Scheu, mächtig, ein Einzelgänger, gehorcht er seinen Trieben und ist so das Andere des Triebverzichtes, den uns Menschen die Moderne abverlangt.

JJ2, der von Land zu Land zieht und von Grenzen nichts weiß, ist zudem eine Metapher für Freiheit. Er darf sich erlauben, was wir Menschen, wenn sie etwa aus Afrika stammen, nicht erlauben. Gegen die errichten wir Stacheldrähte, Abwehrmaßnahmen und unser raffiniertes Schengen-System, die haben mit innenministerieller Strenge zu rechnen, während den Bären die verständige Langmut von Umweltministern sicher ist, der staatlichen Beauftragten für die Liebe zum natürlich Kreatürlichen – und welche nur dann, wenn Sicherheit für Leib und Leben nicht mehr gewährt sind, einen Abschuss des Tieres erwägen, wie jetzt die deutschen Behörden.

Wenn uns die Natur ihrer Unberechenbarkeit wegen anzieht, so heißt das freilich nicht, dass wir sie nicht berechnen wollen. Deswegen will der Mensch der Natur auch als Wissender gegenübertreten. Mag er sich der Gefahr aussetzen, will er über sie doch Bescheid wissen.

Vor einigen Jahren erschien im britischen Economist ein faszinierendes Inserat: „Wenn dir im Wald ein Bär begegnet, dann solltest du wissen, um welche Bärenart es sich handelt“, hieß das Inserat, in dem eine Finanzanlagefirma darauf hinweisen wollte, dass nicht jede Börsensituation dem gleichen Muster entspricht.

Wer in Alaska einen Grizzlybären begegnet, sollte sich auf den Boden legen und totstellen – wer ihn anbrüllt und zu verscheuchen sucht, hat kaum Überlebenschancen. Wer sich hingegen einem Schwarzbären gegenüber sieht, der sollte genau jenes tun. Legt er sich allerdings auf den Boden und stellt sich tot, so wird der Wehrlose mit hoher Wahrscheinlichkeit attackiert. Wehe dem, der den Grizzlybären für einen Schwarzbären hält, oder umgekehrt. Der Autor Eric Frey beginnt sein Buch „Das Hitler Syndrom“ mit dieser Geschichte. Für ihn ist sie ein Beweis dafür, dass man auch in der Politik den Charakter von Bedrohungen genau analysieren soll – und dass uns Annahmen wie „Saddam = Hitler“ leicht in die Irre führen können.

Zunächst aber ist diese Geschichte vor allem eines: Beweis dafür, wie viel der allegorische Schatz der Menschen dem Bären verdankt. Schade richtig, dass JJ2, der gerade durch Bayern streift und vielleicht schon nach dem nächsten Schaf Ausschau hält, von all dem nichts weiß.