Mantraartiges Geflüster am Hermannplatz

JUBILÄUM Die Werkstatt der Kulturen feiert ihren 20. Geburtstag mit einem „Sacred Music&Dance Festival“. Bei schamanischen Gesängen und hinduistischen Tänzen drängeln sich die Besucher. Im Keller gibt es Jazz – und einen tatsächlich magischen Moment

Viel graues Haar über bunten Schals, einige Rastalocken, Babys mit Lärmschutzkopfhörern

Der Samstag war so grau, man hätte direkt nach dem Aufstehen fast ohne schlechtes Gewissen den Fernseher anschalten können. Nach dem Aufstehen hieß 12 Uhr mittags. Es wird eh nicht mehr hell dieses Jahr, wozu den asozialen Tendenzen weiter trotzen? Aber die Pflicht ruft. Nach Neukölln. In die Werkstatt der Kulturen, die am Wochenende ihren 20. Geburtstag feierte mit einem „Sacred Music&Dance Festival“. Das gelbe Backsteinhaus der ehemaligen Bergschlossbrauerei erhebt sich majestätisch in den Novembernebel. Das richtige Ambiente für schamanische Gesänge und drehende Derwische. Blöderweise ist die Autorin so lange nicht zu Potte gekommen, dass sie Schamanen und Derwische schon verpasst hat. Peinlich ist das, sehr sehr peinlich.

Im Restaurant des Hauses viele Menschen, viele Kinder. Eine Leinwand überträgt das Geschehen aus dem Saal oben. Oben kommt man nicht rein. Also stehen wir an. Zehn, zwanzig, dreißig Minuten. Erst wird der Schamanismus nicht fertig, dann ist Umbau. Der Gruppe der Wartenden wächst. Viel graues Haar über bunten Schals, einige Rastalocken, Babys mit Lärmschutzkopfhörern, alle scheinen sich zu kennen. Westberlin.

Das Tigari Ensemble Odametey darf nur eine halbe Stunde spielen. Eine Handvoll Männer an Trommeln und ein Tänzer in einem Gewand, das sich öffnet wie ein Kreisel, wenn er sich dreht. Später kommt eine Tänzerin auf die Bühne, die sieht auch in Hosen und Pullover aus wie ein Kreisel. Wunderschön.

Danach Contemporary Gospel. „Praise U“ nennt sich die Formation um den Bluesgitarristen Jonas Bibi Hammond. „I’m looking for a young man called Samuel“, sagt er ins Mikrofon, „He’s my assistant. He knows, I’m an old man. Without my glasses I don’t see nothing at all.“ Das Lustige ist, dass fast alle Musiker auf der Bühne Brillenträger sind. Sie könnten einfach tauschen. Viel lustiger wird das Konzert leider nicht. Zu laut, zu viel, zu krachig, zu kitschig. Die Musik klingt wie eine Mischung aus 80er-Jahre-Synthie-Pop, Xavier Naidoo und „Sister Act“. Plus rhythmisches Klatschen.

Danach Hunger. Am Tisch erzählt ein Mann namens Tom von den schamanischen Gesängen. „Wenn man mitsingt, dann macht das was mit einem“, sagt er, und es klingt nicht mal albern. Wir diskutieren über den Universalitätsanspruch sinnstiftender Weltanschauungsmodelle und die Hingabe in sakraler Musik und verpassen den Vortrag.

Nach dem Essen will Tom zum hinduistischen Tanz von Rajyashree Ramesh, aber die Schlange vor dem Saal erstreckt sich bereits über zwei Stockwerke. Wir gehen lieber nach unten in den Club. Dort beginnt jetzt die wöchentliche Naked-Jazz-Session um Jazz-Drummer Eric Vaughn. Aus Anlass des Festivals wird eine John-Coltrane-Hommage zelebriert. Vier Saxofonisten, ein Pianist und ein Kontrabassist spielen zwei Stunden lang Coltrane-Klassiker. Gänsehautstimmung unterm Kellergewölbe. Zum Schluss summen, singen und flüstern rund zweihundert Menschen mantraartig die eine Zeile: „A Love Supreme“. Ein magischer Moment.

LEA STREISAND