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Archiv-Artikel

Deutsche Tabus

Lücken im kollektiven Gedächtnis: Lange war die Figur des Flüchtlings ausgegrenzt, wie die Ausstellung „Flucht, Vertreibung, Integration“ zeigt

von UWE RADA

Seit dem Fall der Mauer werden nicht nur die Landschaften jenseits von Oder und Neiße wieder entdeckt, sondern auch die Geschichten derer, die sie einmal bewohnt haben. Das schließt das Erinnern an die Themen Flucht und Vertreibung ausdrücklich ein. So berichtet Hermann Schäfer, der Direktor des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn, dass heute erstaunlicherweise mehr Menschen in ihrem Bekanntenkreis jemanden wissen, dem dieses Schicksal widerfuhr, als vor 50 Jahren. Im Umkehrschluss heißt das: Flucht und Vertreibung sind nicht mehr nur Thema der Vertriebenenverbände, sie sind im kollektiven Erinnern der Deutschen angekommen.

Seit vergangenem Dezember nun müht sich Hermann Schäfer, dieses Thema um einen Aspekt zu erweitern, der im Streit um das richtige Erinnern an die Vertreibung von 12 bis 14 Millionen Deutschen bislang sehr kurz gekommen war – die Integration der Schlesier, Pommern oder Ostpreußen in den neu entstehenden Gesellschaften der Bundesrepublik Deutschland und der DDR. Die viel beachtete Ausstellung, die Schäfers Haus konzipiert hatte, hieß deshalb folgerichtig „Flucht, Vertreibung, Integration“. Seit vergangener Woche ist sie nun auch im Deutschen Historischen Museum Berlin zu sehen.

Dass vor allem in der Sowjetischen Besatzungszone diese Integration ein Neuanfang ohne Erinnerung sein sollte, belegen die zahlreichen Dokumente, Plakate und Schriftstücke, die die Ausstellungsmacher zusammengetragen haben. Auf einem SED-Wahlplakat von 1946 heißt es: „Umsiedler, die SED hilft Euch, eine neue Heimat schaffen.“ Noch bevor die Vertreibungen namentlich aus Schlesien 1947 überhaupt beendet waren, war das Wort selbst schon aus dem offiziellen Wortschatz gestrichen. Selbst dem Begriff des „Umsiedlers“ sollte keine lange Dauer beschert sein. Seit 1950 musste es heißen: „ehemaliger Umsiedler“, später war selbst das nicht mehr gewollt. Bemerkenswert ist dies vor allem deshalb, weil in der späteren DDR 25 Prozent der Bevölkerung aus den ehemaligen Ostgebieten stammten. In den westlichen Besatzungszonen waren es 15 Prozent.

In Westdeutschland vollzog sich die Integration der Vertriebenen öffentlicher und damit auch konfliktreicher. Vor allem der Bund der Vertriebenen und die in ihm organisierten Landsmannschaften hielten nicht nur die Erinnerung an die verlorene Heimat wach, sondern auch die Forderung nach einer Revision der Nachkriegsgrenzen. Abflauen sollte diese politische Auseinandersetzung erst mit den umstrittenen Ostverträgen von 1970. Die DDR hatte die Oder-Neiße-Grenze dagegen schon 1950 anerkannt, wenngleich auch noch bis 1972 geschlossen gehalten.

Es ist allerdings das Verdienst der Ausstellung, nicht nur die Unterschiede der Integrations- oder Assimilationspolitiken in den beiden deutschen Staaten zu beleuchten, sondern auch deren Gemeinsamkeiten. Die reichten von der oft offen formulierten Ablehnung, die Flüchtlingen und Vertriebenen entgegenschlug, bis hin zu weit reichenden Eingliederungshilfen. Im badischen Lahr etwa demonstrierten die Einheimischen mit Transparenten, auf denen stand: „Badens schrecklichster Schreck: der neue Flüchtlingstreck“. In der SBZ sollten die „Umsiedler“ vor allem von der Bodenreform profitieren. Doch zu „Umsiedler-Neubauern“ wurden weit weniger als zehn Prozent der Flüchtlinge und Vertriebenen.

Zur tatsächlichen Integration kam es in beiden Staaten erst in den 70er-Jahren – mit der wirtschaftlichen Konsolidierung und der beginnenden Distanzierung der zweiten Vertriebenengeneration vom Schicksal ihrer Eltern. Das war auch die Zeit, in der das Thema Flucht und Vertreibung in der Literatur ihren Platz bekam – zum Beispiel in Christa Wolfs Roman „Kindheitsmuster“.

Das Erstaunliche an dieser Ausstellung ist: Aus der Perspektive der Integration betrachtet erscheinen Flucht und Vertreibung nicht mehr in dem Maße schicksalhaft, wie es in den Debatten der vergangenen Jahre der Fall sein mochte. Es ist nicht die Geschichte der Vertriebenen, die da – ohnehin sehr nüchtern und emotionslos – ins Bild gesetzt wird, sondern das Erinnern der späteren Generationen an diese Geschichten. Diese Distanz macht den Blick auch frei für die Ursachen von Flucht und Vertreibung, die im ersten Teil der Ausstellung thematisiert werden. Und sie schärft den Blick für die Aktualität des Themas, mit dem man aus der Ausstellung entlassen wird.

Es sind diese Akzentuierungen im Umgang mit dem Thema, für die die Ausstellung „Flucht, Vertreibung, Integration“ in den vergangenen Monaten, auch in Polen, viel gelobt worden ist. Und natürlich bleibt zu hoffen, dass sich der Staatsminister für Kultur, Bernd Neumann (CDU) mit seinem Vorhaben durchsetzen kann, diese Ausstellung nach ihrer letzten Station in Leipzig dauerhaft nach Berlin zu holen. Bis dahin sollte allerdings die Zeit genutzt werden, die Präsentation der Exponate noch einmal zu überarbeiten. Bei allem Lob bleibt nämlich anzumerken, dass ein wenig mehr Übersichtlichkeit dem Vorhaben genutzt hätte.

Die Ausstellung ist noch bis zum 13. August im Deutschen Historischen Museum Unter den Linden 2 zu sehen. Öffnungszeiten täglich von 10 bis 18 Uhr. Der Eintritt ist frei