Singende, klingende Queerness

Normal sein, aber zu den eigenen Bedingungen: So verschieden Jean-Marc Vallées Film „C.R.A.Z.Y.“ und „Breakfast on Pluto“ von Neil Jordan sind, sie vermessen das gleiche Gelände: das Zusammenspiel von Pop-Sozialisation und sexueller Identität

Die Musik markiert sowohl in Vallées Film als auch bei Jordan immer wieder den Übergang von der Realität in Fantasiewelten

VON ANDREAS BUSCHE

Wie dürfen wir uns eine amtliche Teenager-Rebellion in den Siebzigerjahren vorstellen? Einen entfesselten Protest, der all die im elterlichen Weltbild verankerten Disziplinar-und Normierungsinstitutionen aus den Angeln hebt? Der fünfzehnjährige Zac Beaulieu weiß sich zu helfen: Er geht in die Kirche und macht dort die Hölle los – natürlich mit den Rolling Stones. In der Weihnachtsmesse spielt sich vor seinem geistigen Auge ein blasphemisches Spektakel ab: Während die Gemeinde langsam in das lustvolle Voodoo-Geheul von „Sympathy for the Devil“ einstimmt, beginnt Zac sich schwerelos in die Lüfte zu erheben, bis er in Christus-Pose über der enthusiastischen Crowd schwebt. Und Marc-André Grondin, der Zac spielt, ist wirklich ein sexy devil mit seinen dunklen intensiven Augen und dem diabolisch-verführerischen Grinsen des jungen Johnny Rotten. Ein richtiger Rockstar. Einige Jahre später wird Johnny Rotten in derselben Pose als Poster in Zacs Jugendzimmer hängen. In pophistorischen Maßstäben war es nur ein kleiner Schritt von den Stones über David Bowie bis zu den Sex Pistols. In der Biografie eines Teenagers jedoch kann diese Ahnengalerie der Devianz eine ganze Welt bedeuten.

Der franco-kanadische Regisseur Jean-Marc Vallée bringt mit seinem Film „C.R.A.Z.Y.“ das seltene Kunststück fertig, eine Familienchronik anhand ihrer musikalischen Sozialisation zu vermessen. Die Beaulieus sind eine ganz normale Arbeiterfamilie in den Suburbs von Quebec. Vater Gervais malocht auf dem Bau, Mutter Laurianne treibt die Familie jeden Sonntag in die Kirche, ihre fünf Söhne sind ein gesunder Querschnitt durch die Unwegsamkeiten der Adoleszenz: die Leseratte Christian, Raymond der Rebell, die Sportskanone Antoine, das Sensibelchen Zac und Nesthäkchen Yvan, der schon in jungen Jahren zur Fettsucht neigt (das Akronym ihrer Namen ergibt den Titel von Vallées Film). Gervais ist im Großen und Ganzen ein cooler Papa; seine einzige Sorge besteht darin, die Jungs zu richtigen Männern zu erziehen. Dass Zac schon im Alter von sechs Jahren einen Puppenwagen seinem Tischhockeyspiel vorzieht, bereitet ihm schlaflose Nächte. Als er Zac eines Tages im Hausmantel der Mutter erwischt, kommt das für ihn einer Kriegserklärung gleich.

Vallée beschreibt in „C.R.A.Z.Y.“ die Zäsuren, Übergänge und Veränderungen im Leben Zacs anhand eines schmissigen Mixtapes aus Songs, die man heute getrost, manchmal auch wider besseres Wissen (denn natürlich ist gute Musik immer zeitlos) als Oldies bezeichnen könnte. Pop fungiert in „C.R.A.Z.Y.“ als eine Form der Abgrenzung. Doch diese ist niemals absolut, sie kann die immanenten Bedeutungszusammenhänge nie ganz auslöschen. Erinnerungen, Emotionen und Verletzungen sind tief in die Songs der Kindheit eingesunken, darum berührt die Musik von Patsy Cline und Charles Aznavour, den Vater Gervais bei Familienzusammenkünften als Karaoke-Crooner stets zum Besten gibt, Zac genauso tief wie sein eigener Soundtrack aus David Bowie und Pink Floyd – nur anders eben. Die musikalischen Reize verhalten sich komplementär, als Ergänzungen desselben peinigenden Gefühlszustands.

Da ist einerseits der Schmerz, den die Ablehnung des Vaters auslöst; andererseits das Ringen mit der eigenen Homosexualität, diesem unartikulierbaren Gefühl zwischen Selbsthass und Sehnsucht nach Selbstverwirklichung. Während die Musik des Vaters, meist im Kreise der Familie gespielt, Zac auf die repressiven familiären Strukturen zurückwirft, wirkt der flächige, offene, asexuelle (und darum, zumindest im Falle Bowies, gerade auch wieder hypersexualisierte) Space-Pop der Siebzigerjahre auf Zac als ein utopischer Gegenentwurf.

Die Zusammenhänge von Siebzigerjahre-Biografie, dem klingenden Register popmusikalischer Sozialisationserfahrungen und sexueller Identität untersucht auch ein anderer Film auf sehr eingängige Weise, der diese Woche in den deutschen Kinos startet. Neil Jordans „Breakfast on Pluto“ erzählt die abenteuerliche Odyssee von Patrick „Kitten“ Braden, einer verträumten irischen Dragqueen (hinreißend gespielt von Cillian Murphy), durch ein doomiges Siebzigerjahre-London zwischen IRA-Terror und Glamrock. Im Gegensatz zu „C.R.A.Z.Y.“ wirkt Jordans Film eher wie ein musikalisches Poesiealbum, aber auch in Kittens Geschichte rühren die Songs an einer traumatischen Erfahrung – und wieder ist es der (symbolische) Verlust eines Elternteils, in diesem Fall der Mutter. Die hat Patrick als Baby auf der Türschwelle des örtlichen Pfarrhauses zurückgelassen – pikanterweise in der Obhut des Vaters, wie Kitten schließlich herausfinden wird.

Zwar enden die Gemeinsamkeiten von „C.R.A.Z.Y.“ und „Breakfast on Pluto“ hier auch schon wieder, Parallelen sind aber trotzdem nicht von der Hand zu weisen. Beide Filme versuchen etwas ganz Ähnliches, nur in der Wahl ihrer Mittel unterscheiden sie sich gravierend. Schon musikalisch trennen Zac und Kitten Welten. In Zacs Post-Hippie-Sozialisation ist bereits der Keim zum New Wave und Punk angelegt. Kitten hingegen hat eine mitunter schwer erträgliche Vorliebe für Pubrock (Slade), Bubblegum Pop (The Rubettes, Middle of the Road) und amerikanische Schnulzen (Harry Nilsson, Albert Hammond).

Sehr schön ist hieran zu beobachten, welch unterschiedliche Rollen Musik in „C.R.A.Z.Y.“ und „Breakfast on Pluto“ – und damit im Leben ihrer Figuren – einnimmt. Bei Zac als selbst versichernde Instanz, eine bewusste Entscheidung für einen Sound und somit auch als Eintritt in einen ganz bestimmten, mit ebendiesem Sound assoziierten Lebenszusammenhang. Dagegen fungiert die Musik in „Breakfast on Pluto“ eher als nostalgische Klangtapete, ein recht willkürliches, emotional dennoch stark aufgeladenes musikalisches Potpourri aus Gassenhauern, wie sie Anfang der Siebziger im Radio täglich zu hören waren.

Gemeinsam ist beiden Soundtracks, dass sie starke Bindungen an einen Ort und eine bestimmte Zeit wachrufen, darüber hinaus aber auch Sehnsüchte und Hoffnungen ihrer Figuren artikulieren. Musik markiert sowohl bei Vallée als auch Jordan immer wieder den Übergang von der Realität in Fantasiewelten. Ein Ventil, den Fährnissen des Lebens zumindest für einen kurzen Augenblick zu entkommen. „Songs“, sagt Kitten, „sind bloß Songs, solange man nicht an sie glaubt.“ Damit erfüllen Vallées wie Jordans Film nicht zuletzt ein entscheidendes, unter eingefleischten Adorniten bekanntermaßen als ultrareaktionär verschrienes, nichtsdestotrotz aber auch ungemein befriedigendes Kriterium von guter Popmusik als temporärem Glücksversprechen.

Was aber hat es im Kino mit diesem Glücksversprechen auf sich, und warum ist dieses Konzept so unglaublich satisfaktionsfähig? In zwei Wochen zum Beispiel können wir Do It Yourself-Filmemacher Jonathan Caouette dabei beobachten, wie in seinem Debüt „Tarnation“ über einen unendlich melancholischen Lieblingslied/Indierock-Soundtrack die Geschichte seiner zerrütteten Kindheit erzählt. Caouettes therapeutisches Prinzip von alten Familienfilmen und mit persönlichen Erinnerungen besetzten Songs trifft im Kern auch die Sache von „C.R.A.Z.Y.“ und „Breakfast on Pluto“. Die traumatische Erfahrung, das vergebliche Streben nach der Wiederherstellung früherer Zustände findet Trost im Gefestigten, Altbekannten. Der tröstliche Sound umschließt die Versehrungen wie ein heilsamer Kokon.

Man darf das bloß nicht mit Eskapismus verwechseln. „C.R.A.Z.Y.“ und „Breakfast on Pluto“ verschließen sich rigoros dem Nick Hornby-Prinzip vom Soundtrack-zum-Leben-als-vertontes-Tagebuch oder den abstrakten Erlebnis- /Erfahrungsmustern des Typus „Sammler“, der jedem abgespeicherten Sound/Song ein Gefühl und einen konkreten Lebensabschnitt zuweisen kann. Gerade „Breakfast on Pluto“ ist dermaßen der Realität entrückt, dass man Jordans Film besser gar nicht mit profanen Erklärungsmodellen behelligen sollte. Diese Entgrenztheit dient Kitten als positives Lebensmodell. Seine Sexualität stellt für ihn, im Unterschied zu Zac, kein Hemmnis dar.

Cillian Murphy sagt, er habe großen Wert darauf gelegt, Kitten nicht effeminiert, sondern feminin zu spielen. Kitten blüht erst in seinen Rollenspielen richtig auf, umstandslos kann er seine Identitäten wechseln: unschuldiges Mädchen, glamouröse Prinzessin, Vamp oder Lady im konservativen Chic. Durch diese Wandlungsfähigkeit wird er, ganz im Gegensatz zum Musikgeschmack, zur eindeutig progressiveren Figur. Aber auch musikalisch bleibt „Breakfast for Pluto“ ambivalent. Kittens kitschiger Soundtrack hat zwar durchaus etwas Queeres, ist aber nicht per se „schwul“ konnotiert.

Überhaupt scheint seine irische Herkunft ein weit größeres Problem darzustellen als Kittens Vorliebe für hautenge Polyesterpullover, Fellkragen und mit Glitzerapplikationen versehene Blusen (wir befinden uns aber schließlich auch im London der Siebziger und nicht in der gottverdammten kanadischen Suburbia). „Breakfast on Pluto“ geht es wie „C.R.A.Z.Y.“ weniger darum, Sexualität an sich als vielmehr die individuellen Lebenszusammenhänge zu problematisieren, in denen sexuelle Identitäten eine mehr („C.R.A.Z.Y.“) oder weniger („Breakfast for Pluto“) tragende Rolle spielen. Das schlägt sich notwendigerweise auch in der Wahl des Soundtracks nieder. Der einzige explizit schwule Song in „C.R.A.Z.Y.“ ist eine Disconummer, zu der Zac in einer israelischen Disco abkotzt, bevor es ihn in einer zu Buñuels Heiligenfigur Simon verkehrten Bewegung vom Nachtclub hinaus in die Wüste treibt. Hier wird auch er Erleuchtung finden.

Vallée und Jordan zeigen, dass es tatsächlich möglich ist, einen Zustand von Normalität zu den eigenen Bedingungen herzustellen. Das muss auch Zac irgendwann erkennen. „Ich will doch nur so sein wie alle anderen auch“, gesteht er als Fünfzehnjähriger einer Wunderheilerin. „Gott sei Dank,“ entgegnet die, „bist du es nicht.“