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Archiv-Artikel

Supermaschine für Menschen- und Bahnströme

Es gleicht einem Raumschiff, das hinterm Kanzleramt gelandet ist – und einem Stück Brasília an der Spree: Der Berliner Hauptbahnhof hat viel Kritik auf sich gezogen. Und dennoch ist dem Architekten von Gerkan ein beeindruckendes Werk innovativer Verkehrsarchitektur gelungen

BERLIN taz ■ Es kommt nicht oft vor, dass ein Bauwerk von mehreren hundert Meter Länge, in der Höhe eines Hochhauses und noch dazu imposanter Architektursprache so einschneidend und unauffällig zugleich ins Blickfeld rückt. Berlins neuer Hauptbahnhof, an Stelle des alten Lehrter Stadtbahnhofs als Mega-Kreuzungsbahnhof für alle vier Himmelsrichtungen des Reisens errichtet, ist höchstens Primus inter Pares unter all dem, was das Berliner Regierungsviertel im Spreebogen ausmacht: In der Stadtlandschaft ohne Stadt vermittelt es ein Bild artifizieller Neuartigkeit, in dem der Bahnhof die Rolle eines frisch gelandeten funkelnden Raumschiffs aus Glas und Stahl spielt. Berlin gleicht hier jetzt immer mehr Brasília.

Nun ist das, was Meinhard von Gerkan, Chef des Hamburger Architekturbüros „gmp“, dort vor zehn Jahren entworfen und seither gebaut hat, niemals als Erinnerung an die alten Bahnhofskathedralen gemeint gewesen. Lagen diese inmitten der Metropolen, schufen dichte Quartiere für Reisende, Geschäfte, den Eros und Obdachlose, ist der neue Hauptbahnhof das schiere Gegenbild urbaner Nostalgie.

Auf einer Grundstücksfläche von 100.000 Quadratmetern mit gut und gerne der gleichen Menge Freiraum drumherum hat von Gerkan einen funktionalen Verkehrsknotenpunkt errichtet, der nicht mehr Tor zur Stadt (wie die Bahnhöfe Zoo oder Friedrichstraße es sind), sondern eine pure Supermaschine für Menschen- und Eisenbahnströme ist. 2.000 Züge und über 300.000 Reisende und Besucher sollen täglich durch die oberirdische Glasröhre bis in die Tunnellandschaft hinunter – und natürlich umgekehrt – geschleust werden: Umsteiger, ICE-Reisende, Passagiere für die Flughäfen, Beamte, S-Bahn-Nutzer und Einkäufer in den Läden.

Dass von Gerkan diesem Auftrag nicht nur gerecht geworden ist, sondern zugleich ein Stück innovative Verkehrsarchitektur geschaffen hat, ist das Positive in der Reihe schlechter Nachrichten in zehn Jahren Bauzeit. Von den einst veranschlagten 250 Millionen hat sich das Gesamtbauwerk auf Kosten von über 700 Millionen Euro hochgeschraubt. Von „unnötig“ bis „überdimensioniert“ lauten kritische Urteile. Moniert wird auch, dass der Bahnhofsorbiter im Niemandsland liegt und eine schlechte Anbindung durch Tram, S- und U-Bahn aufweist. Und dass für den Hauptbahnhof andere Bahnhöfe ihre Bedeutung verlieren, weil dort keine ICEs mehr halten, stinkt vielen Berlinern, ganz zu schweigen vom Clinch über Urheberrechtsfragen zwischen dem Bauherrn Bahn AG und dem Architekten.

Sieht man den Hauptbahnhof aber als zentrales technisches Herz in der Berliner Mitte für Reisende in alle Richtungen, hat Meinhard von Gerkans Architektur Bestand. Über das bestehende Stadtbahnviadukt in Ost-West-Richtung hat der Planer eine gigantische 321 Meter lange und 65 Meter breite offene Glastonne über alle acht Gleise gespannt. Durch die gläsernen Dächer in 25 Meter Höhe – die mit Photovoltaik-Modulen belegt sind – fällt das Tageslicht über fünf Ebenen hinunter in das Tiefgeschoss, wo sich die neue Nord-Süd-Trasse in Tunnellage befindet für Reisen Richtung Hamburg und Nordwesten sowie Leipzig und München.

Diese unterirdische Nord-Süd-Strecke, ein Berliner Verkehrs-Traum seit den 20er-Jahren, erreichen Reisende über die große lichte Haupthalle in der Mitte der Glasschlange, über Ebenen mit himmelsleitergleichen Rolltreppen und Fahrstühlen, die Aufzügen zu Mondraketen ähneln. Auf 175.000 Quadratmetern ist ein komplexes Ebenengeflecht entstanden, ein Auf und Ab offener Räume, Schluchten und Aufstiege, das an moderne Airports erinnert. Die Schienenspange überspannen zwei Bügel, für die Büros vorgesehen sind.

Als „Torso“ hat von Gerkan sein Bauwerk bezeichnet, weil Bahnchef Mehdorn aus Kostengründen die Glasröhre um 70 Meter kürzen und die Gerkan’schen gläsernen Kellergewölbe für noch mehr Licht durch simple Deckenbleche ersetzen ließ. Natürlich tut das dem Gebäude keinen Abbruch. Es ist kein architektonischer Torso, sondern eine Inszenierung: eine Plattform für Ankommende, draußen das neue Berlin zu betrachten. ROLF LAUTENSCHLÄGER