Keine Zeiten, keine Fälle, nichts Überflüssiges

Post aus Peking: Chinesisch lernen ist einfach – so lange man es beim Sprechen belässt. Erst mit den Schriftzeichen fangen die Probleme an

Wer bereits zum fünften Mal nach China reist und noch immer im Taxi Freunde anrufen muss, damit diese dem Fahrer den Weg erklären, der hat nur zwei Möglichkeiten: Er kann sich neue Freunde suchen, die er weiterhin schamlos behelligen kann – und er kann Chinesisch lernen. Ich habe mich für Letzteres entschieden.

Die chinesische Sprache ist eine einfache, so lang man sich darum drückt, sie auch lesen oder schreiben zu wollen. Die vier Tonarten – hoch, ansteigend, tief, abfallend – sind schnell gelernt und machen nach wenigen Tagen nur noch Probleme, wenn man sie sich merken soll oder wenn sie schnell hintereinander gesprochen werden wollen. Es gibt ein paar Zischlaute, die ein wenig nach Zahnprothese klingen, aber auch an die hat man sich bald gewöhnt. Anfangs klingen viele chinesische Silben gleich und heißen trotzdem etwas anderes – so ist es zum Beispiel nicht ganz leicht einzusehen, dass das Wörtchen „zai“ in der vierten Tonhöhe sowohl „wieder“ als auch, mit einem anderen Schriftzeichen, „da sein“ heißen kann – „zou“ in der dritten Tonhöhe „gehen“, „zuo“ in dritten „links“, in der vierten hingegen je nach Schriftzeichen mal „machen“ und mal „sitzen“ – aber wenn es einmal drin ist im Kopf, dann bleibt es für gewöhnlich auch da.

Vor allem aber gibt es keine Grammatik, die annährend so verzwackt wäre wie die in indogermanischen oder romanischen Sprachen. Keine Fälle, keine Zeiten, keine Deklinationen – nichts, was überflüssig ist, weil es sich schon aus dem Kontext ergibt. Will man etwas fragen, hängt man ganz einfach ein „ma“ an den Satz, will man betonen, dass etwas abgeschlossen ist, ein „le“. Und vergisst man dies zuweilen, dann macht es großen Spaß, darüber zu schimpfen. Man ruft etwa laut „Zaogao“, hat „missratener Eierkuchen“ gesagt und „Mist“ gemeint.

Eigentlich ein Klacks – bis man an einem Zeitungskiosk vorbeikommt und sich ärgert, dass man keine einzige Überschrift lesen kann. Oder man wackelt ebenso orientierungslos durch einen Buchladen wie man etwa durch ein Geschäft für intergalaktische Hyperraummodule wackeln würde. Erwachsene Mitteleuropäer sind in der Regel höchstens fähig, drei bis vier Schriftzeichen am Tag zu lernen, ohne darüber die bereits gelernten zu vergessen. Obwohl, wie manche behaupten, chinesische Abiturienten höchstens 2.000 Schriftzeichen beherrschen, sind davon mindestens 5.000 nötig, um eine Tageszeitung zu lesen. Wenn ich mir als Ziel stecke, Zeitung lesen zu wollen, werde ich dafür fünf Jahre brauchen. Dann wäre ich vierzig. An die 10.000 braucht man, wenn man einen schwierigen Roman lesen will. Mit fünfundvierzig könnte ich also meinen ersten Roman auf Chinesisch lesen. Bis dahin hätte ich allerdings nicht viel Zeit, anderes zu tun – immerhin kenne ich Sinologen, die ihr Studium vor Jahrzehnten abgeschlossen haben, Chinesisch lehren und immer noch zu mühselig finden, Romane zu lesen. Ich kenne auch eine Halbchinesin, die seit den Achtzigerjahren in Peking lebt, und nach ihrem Chinesischstudium wieder verlernt hat, zu schreiben.

Was also tun? Ich gehe in einen Schreibwarenladen und kaufe mir einen weichen Bleistift und rosa Hefte mit großen Rechenkästchen für das Üben der Zeichen, außerdem ein paar Bilderbücher mit wenig Text, vielen lila Bärchen und anderen bunten Tieren – Stoff für Erstklässler. So kann wenigstens diese Krise nicht aufkommen, die, wie man hört, manche in der Mitte ihres Lebens erwischen soll. Das Rezept ist so einfach wie die chinesische Sprache: Man gehe in die fremdeste Stadt, die man sich vorstellen kann, und man fange noch einmal von vorn an. SUSANNE MESSMER