: Große Gesten, kurze Wege
Leipzig ist von sich überzeugt. Ihre Besucher überzeugt die sächsische WM-Stadt mit Nachtleben ohne Sperrstunde, günstigen Mieten und sanierten Gründerzeithäusern, die von einer beinahe mediterranen Leichtigkeit sind. Ein kurzer Stadtrundgang
von DAVID DENK
Der Größenwahn passt in eine Fotomontage: Vor der Leipziger Skyline, bestehend aus dem Turm des Neuen Rathauses und dem City-Hochhaus, sieht man einen muskelbepackten Athleten beim Stabhochsprung. Darunter steht: „Highflyers welcome“. So begrüßt die Imagekampagne „Leipziger Freiheit“ die Besucher ihrer Website, die nun die Wahl haben – zwischen Flash- und HTML-Version. Leipzig hat sich längst entschieden. Die größte Stadt Sachsens (ca. 500.000 Einwohner) ist die Flash-Version einer Großstadt: beeindruckend aufgeblasen.
Die jüngere Geschichte Leipzigs ist die einer Anmaßung: Montagsdemos, die erste Imagekampagne „Leipzig kommt“ (ab 1992) – vor allem aber die Bewerbung um die Olympischen Spiele 2012. Richtig erfolgreich war nur die friedliche Revolution von 1989, die Leipzig zur „Heldenstadt“ gemacht hat und die Nikolaikirche samt Pfarrer Christian Führer zu Ikonen des Freiheitsdrangs. Die Leipziger tragen ihren neuen Beinamen wie einen Orden. Understatement liegt ihnen nicht. Fußball auch nicht.
Dabei hat alles so schön angefangen: Am 28. Janur 1900 wurde in der Gaststätte „Zum Mariengarten“, ein, vielleicht zwei Steinwürfe vom Hauptbahnhof entfernt, der Deutsche Fußball-Bund gegründet. Drei Jahre später gewann der VfB Leipzig, gegründet 1893, als erster Verein in der DFB-Geschichte die Deutsche Meisterschaft. 100 Jahre später ist von der ruhmreichen Vergangenheit kaum mehr geblieben als eine Gedenktafel aus Kalkstein am Haus Büttnerstraße 10. Den „Mariengarten“ gibt’s schon lange nicht mehr – und auch der VfB Leipzig ist seit Juli 2004 Geschichte. Auf eine erfolglose Bundesligasaison 1993/94 und den Wiederabstieg folgten zwei Insolvenzverfahren 2000 und 2004 – und das Ende, die Auflösung des Traditionsvereins.
Es war schon die zweite in der Geschichte des VfB Leipzig nach der Enteignung durch die russischen Besatzer. Seit 2004 heißt der im Bruno-Plache-Stadion im Stadtteil Probstheida beheimatete Bezirksligist wieder 1. FC Lokomotive Leipzig – wie schon vor 1991. Lok Leipzig ist also der offizielle Vorgängerverein des nach der Wende neu gegründeten VfB und versteht sich als inoffizieller Nachfolgeverein des alten und neuen VfB Leipzig. Versteht sich, dass Lok Leipzig sich mit den Lokalrivalen vom Oberligaclub FC Sachsen Leipzig nicht versteht.
Der FC Sachsen Leipzig spielt seit zwei Jahren im für rund 90 Millionen Euro umgebauten Zentralstadion. Es bietet Platz für etwa 44.000 Zuschauer und wird während der WM für vier Vorrundenbegegnungen und ein Achtelfinale genutzt. Zu den Spielen des FC Sachsen Leipzig, der von seinen Fans immer noch nach dem 1950 gegründeten Vorgängerverein „Chemie“ genannt wird, kommen durchschnittlich etwa 4.000 Zuschauer – ein Verlustgeschäft. Doch dem Stadionbetreiber liegt so viel an einer regelmäßigen Nutzung des reinen Fußballstadions, dass er, so heißt es, den Verein jede Saison mit einer hohen sechsstelligen Garantiesumme unterstützt.
Zwischen dem tatsächlich sehr innenstadtnah gelegenen Zentralstadion und dem Hauptbahnhof liegen vier Haltestellen. Doch die beiden Bauten verbindet mehr als einige Straßenbahnlinien. Beide sind in den vergangenen zehn Jahren für viel Geld umgebaut und saniert worden, vor allem aber wirken beide – wenn nicht gerade WM ist – grotesk überdimensioniert. Die gefühlte Auslastung des 1915 erbauten Kopfbahnhofs liegt bei 30 Prozent. In und unter der Bahnhofshalle kann man auf 30.000 Quadratmetern Verkaufsfläche Waschmaschinen, Skateboards und Kleintiere kaufen. Die „Hauptbahnhof Promenaden“ sind täglich bis 22 Uhr geöffnet.
Auch sonst kennt Leipzig keine Sperrstunde. Am zentralsten betrinken kann man sich im Barfußgässchen direkt am Markt, das man jedoch schon im eigenen Interesse nur mit Schuhen betreten sollte, denn hier, auf dem „Freisitz“, wird’s an Sommerabenden kuschelig eng – versprochen! Auf vielleicht 50 Metern drängt sich hier auf beiden Seiten Kneipe an Irish Pub an Cocktailbar. Wer’s etwas geräumiger mag, sollte ums Barfußgässchen einen Bogen machen und jenseits des Innenstadtrings in der Gottschedstraße sein Ausgehglück suchen: die Schickimicki-Liegewiese „Sol y Mar“, die Studentenkneipe Luise, das aus dem MDR-„Tatort“ bekannte Waschcafé „Maga Pon“, die „Vodkaria“ oder doch lieber die „BarCelona“ – was darf’s sein?
Die hohe Lebensqualität in Leipzig – viel Grün, viel Kultur, viel Nachtleben, wenig Miete – wird wohl auch diejenigen WM-Gäste überzeugen, die beim Osten Deutschlands zunächst an eine graubraune Suppe aus Neonazis, Arbeitslosigkeit und Plattenbauten denken. Vor diese Assoziationen werden sich Bilder von ganzen Straßenzügen hochglanzsanierter Gründerzeithäuser schieben, von einer beinahe mediterranen Leichtigkeit und dem Charme des Unfertigen. Vier Stationen vom Bahnhof zum Stadion und keine zehn Gehminuten von Gottschedstraße bzw. Barfußgässchen zur Karl-Liebknecht-Straße – die WM-Gäste werden also bestimmt zu schätzen wissen, was das IOC nicht für die Leipziger Olympiabewerbung einzunehmen vermochte: die kurzen Wege. Doch auch die sind der Bach-, Buch-, Prinzen-, Messe-, Porsche-, BMW-, DHL-, Helden- und WM-Stadt noch nicht kurz genug – ein „City Tunnel“ muss her, der ab 2009 den Hauptbahnhof mit dem Bayerischen Bahnhof verbinden soll. Baukosten: 571 Millionen Euro. „Ein Meilenstein für mehr Mobilität“ (Eigenwerbung) und ein weiterer Beleg für die Getriebenheit dieser Stadt: höher, schneller, weiter – am besten sofort.