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Archiv-Artikel

Ein Aufstand alter Männer

1.500 Mitglieder hat der Verein.Sie machen mobil gegen „diegezielte und systematische Delegitimierung der DDR“

AUS BERLIN BARBARA BOLLWAHN

Der Film heißt „Das Leben der Anderen“. Da zuckelt am Ende ein ehemaliger Stasi-Hauptmann nach seinem und dem Scheitern der DDR mit einem Handwägelchen durch die Straßen Ostberlins und verteilt Werbeprospekte. Von irgend was muss er schließlich leben. Auch Kurt Stankewitz, ehemaliger Angehöriger der Grenztruppen und Politoffizier, hat nach dem Mauerfall Prospekte in Briefkästen gesteckt. Trotz dieser Parallele ist der 72-Jährige nicht ins Kino gegangen. „Das Leben der anderen“ ist ein Film der anderen, nicht seiner. „Nee, das interessiert mich nicht. Ich habe die Kritiken gelesen, das reicht mir.“

Der mit Preisen überhäufte Film beginnt mit einer Verhörszene an einem Ort, um den seit Wochen eine emotionsgeladene Auseinandersetzung geführt wird: die ehemalige Untersuchungshaftanstalt des Ministeriums für Staatssicherheit in Berlin-Hohenschönhausen. Für die einen ist sie ein Ort von Menschenrechtsverletzungen und Teil einer kommunistischen Diktatur. Für die anderen war sie eine ganz normale Untersuchungshaftanstalt, wie es sie überall auf der Welt gibt. Die einen sprechen von einer Gedenkstätte, die anderen von einem „Gruselkabinett“.

Kurt Stankewitz gehört zu den anderen. Er ist Mitglied eines Vereins, der ausschließlich aus Ehemaligen besteht: Offizieren, Generälen und sonstigen Funktionären der Staatssicherheit, auch der letzte Leiter der früheren Untersuchungshaftanstalt gehört dazu, außerdem Angehörige der Grenztruppen, der Nationalen Volksarmee, Richter, Staatsanwälte, Sportfunktionäre, Trainer. Sie alle fühlen sich verleumdet, verunglimpft und diffamiert. Sie machen mit Redebeiträgen, Buchvorstellungen, Briefen und im Internet mobil gegen „die gezielte und systematische Delegitimierung der DDR“, als sollte demnächst jedem ehemaligen DDR-Bürger, der noch mit einem Trabant unterwegs ist, der Führerschein entzogen werden. Berlins SPD-Innensenator Erhart Körting hat den Verein einen Zusammenschluss von „ewig Gestrigen“ genannt und ihn mit Freundschaftsverbänden der Waffen-SS in der Nachkriegszeit verglichen. Den Vergleich zog er später zurück, weil er als „Relativierung der NS-Gewaltherrschaft missverstanden“ werden könnte. Derzeit prüft der Berliner Verfassungsschutz aber eine nachrichtendienstliche Beobachtung des Vereins.

Die Rede ist von der GRH, der „Gesellschaft zur rechtlichen und humanitären Unterstützung e. V.“ Kurt Stankewitz ist nicht nur Mitglied des 1993 gegründeten Vereins, der nach eigenen Angaben 1.500 Mitglieder zwischen Rostock und Suhl zählt, er ist auch Vorsitzender der „Territorialen Arbeitsgruppe Lichtenberg“. In diesem Berliner Bezirk, geführt von einer PDS-Bürgermeisterin, die Wert darauf legt, ehemalige Stasimitarbeiter in die laufende öffentliche Debatte einzubeziehen, befindet sich die ehemalige Untersuchungshaftanstalt Hohenschönhausen. Lichtenberg ist eine Hochburg Ehemaliger, 155 ehemalige DDR-Bürger sind hier in der GRH, 18 sind heute vorbestraft, sie wurden nach der Wende verurteilt. Viele Mitglieder sind wegen ihres hohen Alters nur noch in der Lage, den Monatsbeitrag von drei Euro zu entrichten.

Kurt Stankewitz ist mit seinen 72 Jahren rüstig genug, Reden zu halten – kürzlich erst wieder, Ende April auf der öffentlichen Bezirksverordnetenversammlung, auf der die Texte für vier Gedenktafeln auf dem Gelände der Stasi-Untersuchungshaftanstalt diskutiert wurden. Sechs Verordnete der Linkspartei.PDS, der stärksten Fraktion in Lichtenberg, stellten Stankewitz als Redner auf. Er wetterte gegen „die Geschichtsklitterung der DDR und ihrer Sicherheitspolitik“ und „die verfälschende Gedenkstättenkultur“, bis die Verordneten von CDU und SPD sowie ehemalige Insassen der Haftanstalt empört aufsprangen und der Bezirksvorsteher ihm das Wort entzog.

Kurt Stankewitz hat die Kaffeetafel gedeckt. Im Wohnzimmer der Plattenbauwohnung, in der er seit 1970 mit seiner Frau wohnt, serviert er Erdbeer- und Kirschtörtchen, Salzstangen, Kerzen, erst Kaffee, später Cognac. Die ehemalige Stasi-Haftanstalt liegt nur acht Kilometer von hier entfernt.

Auch wenn für Stankewitz nach „dem offiziellen Beitritt der DDR zur BRD“ nicht alles Gold ist, was glänzt, erstrahlt sein Wohnzimmer in Gold: die Ränder des Kaffeeporzellans und der Cognacschwenker, die Kaffeekanne, die Kuchenlöffel, die Kerzenhalter an der Wand, die Pferde oben auf der Schrankwand, die Schwäne darunter, die eine Bücherreihe zusammenhalten. Er sitzt in seinem pfauenverzierten Sessel, reicht Yorkshire-Terrier Willy Würstchen, damit der sich beruhigt, und zieht immer mal wieder ein Blatt Papier aus einer vorbereiteten Mappe. Hin und wieder bohrt sich sein rechter Zeigefinger steil in die Luft. „Es findet eine breit angelegte Welle des Antikommunismus statt!“, doziert er. Dann verleiht der linke Zeigefinger seinen Worten Nachdruck: „In einer Klassengesellschaft wie der DDR braucht es unbedingte Staatstreue und Loyalität. Das ist nun mal so!“

Der weißhaarige Rentner, der mit 16 Jahren seinen Antrag auf Aufnahme in die SED gestellt hat, 1992 aus der PDS aus- und in die KPD eingetreten ist, bezeichnet sich als „gestandenen DDR-Bürger“: „Ich war kein Zuschauer, sondern habe den Kalten Krieg an der offenen Sektorengrenze erlebt.“ Dieser Krieg ist für ihn noch immer nicht vorbei. Sein Einsatzgebiet ist die „Territoriale Arbeitsgruppe Lichtenberg“: die monatlichen Treffen des 13-köpfigen Sprecherrats, die Gespräche „zur Lage“, die zweimal im Jahr stattfindenden Mitgliederversammlungen. Die Betreuung von 16 altersschwachen oder kranken Genossen, das Verleihen des Neuen Deutschland, früher das „Zentralorgan der SED“, auch das Gedenken an DDR-Feiertagen.

Es überrascht nicht, dass den rüstigen Mann mit dem Hörgerät sein Gedächtnis kurz nach dem Mauerfall im Stich gelassen hat. Damals wurde er vernommen und nach Namen von Verantwortungsträgern gefragt: „Da hatte ich wirklich Schwierigkeiten.“

Einer wie Kurt Stankewitz hat sich nichts vorzuwerfen. Obwohl. Er hält inne und überlegt. „Wir wissen sehr wohl, dass es Licht und Schatten gab“, sagt er. Wieder nimmt er den linken Zeigefinger zur Hilfe. „Man darf nicht vergessen, unter welchen Bedingungen das erfolgte! Es musste immer nachgezogen werden.“ Schließlich fällt ihm doch etwas ein, was er sich zum Vorwurf macht: „Dass wir nicht verhindern konnten, dass es zu 1989 gekommen ist.“

Der Sitz der GRH ist im ehemaligen Verlagshaus des Neuen Deutschland. Links vom Eingang steht eine Skulptur von Rosa Luxemburg, rechts wehen Fahnen der Rosa Luxemburg Stiftung. In der dritten Etage neben der „Initiativgemeinschaft zum Schutz sozialer Rechte ehemaliger Angehöriger bewaffneter Organe der DDR“ residiert die GRH. Mitbegründer und Vorsitzender ist Hans Bauer. 1966 wurde er zum Staatsanwalt ernannt, klagte sowohl Verkehrsdelikte als auch Grenzübertritte an, beschäftigte sich mit der Ursachenforschung von Kriminalität und war zur Wende Stellvertreter des Generalstaatsanwalts der DDR. Mit seinen 65 Jahren ist er ein Jungspund in der GRH. Der Diplomgesellschaftswissenschaftler mit dem Schnauzer, der Halbglatze und einigen kleinen Warzen im Gesicht sitzt in einem nüchternen Versammlungsraum am Ende eines langen Tischs. Er spricht von der DDR als einem „Staat wie jedem anderen auch“. Das Ministerium für Staatssicherheit war für ihn „ein Untersuchungsorgan, das ordnungsgemäße Verhaftungen vornahm“. Ohne Zweifel, räumt er ein, habe es auch Unrecht gegeben. Er meint damit „zu wenig Toleranz gegenüber Menschen, die anderer Auffassung waren“. Juristisch sei das nicht fassbar, „sag ich mal“.

Hans Bauer, der nach einigen Jahren Arbeitslosigkeit 1992 seine Anwaltszulassung bekam und sich seitdem als „Wald- und Wiesenanwalt“ über Wasser hält, erzählt von der DDR, als wäre sie ein Hort der Mitbestimmung und Toleranz gewesen. „Auf Betriebsebene hat jeder mitgeredet, manchmal zu viel. Jeder konnte über den Meister reden. Das war ein hoher Grad an Demokratie, schwerlich zu überbieten.“ Als ewig Gestrigen möchte er sich nicht bezeichnen lassen, auch wenn ihm das Wort Unrechtsstaat niemals über die Lippen kommen würde. „Wir wollen unseren Beitrag leisten zur Befriedung der Situation.“

Die Fronten zwischen Tätern und Opfern sind 16 Jahre nach dem Mauerfall verhärtet, eine Annäherung so gut wie unmöglich. Hans Bauer beklagt, dass Leute wie er nicht gehört und nur als Täter behandelt werden. Er sagt, dass er „Worte des Verständnisses, der Versöhnung“ erwartet. „Dann würde es manchem von uns leichter fallen, sich zu öffnen.“ Mit Blick auf die Prüfung der Beobachtung durch den Verfassungsschutz gibt er Entwarnung: „Ein Umsturz oder revolutionäre Umtriebe sind von uns nicht zu erwarten.“ Das zumindest glaubt man ihm aufs Wort.

In der aufgeheizten Debatte zwischen Tätern und Opfern ist der Ton scharf. Auch Beleidigungen fallen: „Volksverhetzer“ oder „rot lackierte Faschisten“. Es geschehen auch seltsame Dinge. Karin Seidel-Kalmutzki, die für die SPD im Abgeordnetenhaus sitzt und zur Wahl im September Spitzenkandidatin der Lichtenberger Sozialdemokraten ist, hat das erlebt. Wenige Tage nachdem im März die alten Stasifunktionäre geballt in der Öffentlichkeit aufgetreten waren, beschloss das Berliner Abgeordnetenhaus, eine Aktuelle Stunde zu diesem Thema abzuhalten. Seidel-Kalmutzki, Jahrgang 1960, deren Vater wegen einer kritischen Äußerung gegen die Zwangskollektivierung in der Landwirtschaft zu zehn Monaten Haft verurteilt worden war, sollte eine Rede halten. Am Abend zuvor bekam sie einen Anruf. „Passen Sie auf, was Sie morgen sagen“, sagte eine ältere Männerstimme.

Woher wusste der Anrufer von dem Termin, der nur im Plenum bekannt war? Und ihre Telefonnummer ist über die Auskunft nicht in Erfahrung zu bringen. „Eine sehr merkwürdige Geschichte“, sagt Seidel-Kalmutzki. Am Abend nach der Rede, in der sie das fehlende Unrechtsbewusstsein der Funktionäre und das Stasi-Image von Lichtenberg kritisierte, klingelte „massiv, bis in die späte Nacht hinein“ ihr Telefon. Wenn sie abnahm, wurde aufgelegt. So war das auch in den Tagen danach. Aber Seidel-Kalmutzki will über die Angelegenheit gar nicht so viel reden. „Das ist ein letztes Aufbäumen alter Herren.“