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Archiv-Artikel

Versuchter Mord in 24 Fällen

Ein jugendlicher Messerstecher aus Neukölln verletzt 35 Menschen nach der Eröffnungsfeier des Hauptbahnhofs. Der 16-Jährige sitzt in U-Haft. Sein Motiv bleibt auch drei Tage nach der Tat unklar

von RICHARD ROTHER

Nach dem Amoklauf eines 16-jährigen Jugendlichen herrscht Rätselraten über das Tatmotiv. Der Jugendliche, der zur Tatzeit am späten Freitagabend stark angetrunken war, bestreitet die Tat. Er sitzt in Untersuchungshaft; ihm wird versuchter Mord vorgeworfen.

Der 16-jährige Hauptschüler aus Neukölln hatte in der Nähe des neuen Hauptbahnhofs, wo Hunderttausende die Einweihung des Verkehrsknotens feierten, wahllos auf Passanten eingestochen und 35 Menschen verletzt, wie ein Sprecher der Staatsanwaltschaft gestern mitteilte. 30 Opfer hätten Stich- oder Schnittwunden erlitten, 24 davon am Oberkörper. Deshalb laute der Tatvorwurf versuchter Mord in 24 Fällen. Fünf andere Geschädigte seien geschlagen worden. Sechs Menschen trugen schwere Schnittwunden davon. In akuter Lebensgefahr schwebte gestern keiner mehr.

Dass der Jugendliche so viele Menschen verletzen konnte, bevor er gefasst wurde, liegt vermutlich an der großen Menschenmenge, in der er die Taten beging. Einen Messerstich nehmen Betroffene zunächst als dumpfen Stoß wahr. Bis sie realisieren, dass sie gestochen wurden, vergehen einige Augenblicke. In dieser Zeit kann der Messerstecher auf der Suche nach einem weiteren Opfer in der Menschenmenge untergetaucht sein.

Über das Motiv herrscht weiter Unklarheit. In der RBB-„Abendschau“ beschrieb ein älterer Bruder den 16-Jährigen als liebenswürdigen Menschen. „Irgendetwas muss gewesen sein, dass er nicht mehr wusste, was er macht.“ Sein Bruder schreibe Gedichte für seine Freundin und sei lieb zu seinen Neffen.

Der Amoklauf sei keine neue Dimension, so der Hannoveraner Kriminologe Christian Pfeiffer. „Es kommt immer wieder vor, dass hoch frustrierte Menschen solche Racheorgien vollführen, manchmal nicht unbedingt an denen, die das Ganze ausgelöst haben.“ Alkohol könne für ein solches Verbrechen enthemmend wirken, jedoch nicht der Auslöser sein. Entscheidend sei, in die Biografie des Täters zu schauen. „Mich würde zudem interessieren, welchem Computerspiel und welchem Filmmaterial als einem Element der Desensibilisierung er ausgesetzt war.“

Innensenator Ehrhart Körting (SPD) sagte, der Schüler sei bisher nur mit kleineren Delikten aufgefallen. Er habe nach bisherigen Ermittlungen einmal einen Mitschüler geschlagen. Außerdem soll er in der Schule eine Scheibe eingeschlagen haben.

Weil eines der Opfer mit dem Aidsvirus infiziert war, fürchten sich Helfer und Opfer vor einer HIV-Ansteckung. Das Opfer habe aber eine „sehr niedrige Viruslast“, sagte eine Charité-Sprecherin gestern. Dadurch sinke die Wahrscheinlichkeit einer Infektion. Zuvor hatten schon Charité-Experten das Ansteckungsrisiko als gering bezeichnet. Bei einem Stich mit einer Infusionsnadel betrage die Wahrscheinlichkeit einer HIV-Infektion 1 zu 300. Zudem sei das Blut auf dem Tatmesser bei jedem Stich durch die Kleidung der Opfer abgewischt worden.

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