Die Kunst des Überlebens

Hiner Saleems kurdischer Roadmovie „Kilomètre Zéro“, der größtenteils 1988 zur Zeit des Irak-Iran-Kriegs spielt

Als Running Gag gibt es eine Saddam-Hussein-Statue mit militärischem Grußarm

Der Irak ist besetztes Gebiet, und das in semantischer Hinsicht mehr noch als in militärischer. Für jemanden, der dort geboren und Anfang der 80er-Jahre geflohen ist, wie den kurdischen Regisseur Hiner Saleem bedeutet es etwas anderes als für diejenigen, die heute gegen den Irakkrieg der Amerikaner sind. Es ist deshalb mehr als ein bloßes Stilmittel, dass in Saleems Film „Kilomètre Zéro“, der größtenteils 1988 zur Zeit des Irak-Iran-Kriegs spielt, nur sehr wenig geredet wird. Der Weg über Debatten und Erklärungen ist versperrt. „Kilomètre Zéro“ beginnt mit einer Einstellung, in der man einen Mann und eine Frau an einem Feld stehen sieht. Die beiden blicken stumm in die Ferne. So eröffnet der Film sein Assoziationsfeld – man ahnt, dass es um den Verlust von Heimat geht.

Die eigentliche Handlung beginnt 1988 im irakischen Teil Kurdistans, Saddam Hussein ist auf der Höhe seiner Macht, der Krieg mit dem Iran in vollem Gange. Militärjeeps fahren über staubige Straßen und greifen Männer auf. Was zuerst nach willkürlicher Gefangennahme aussieht, erweist sich als Personenkontrolle zum Zwecke der Einberufung in die Armee. Erst nach und nach begreift der Zuschauer die Konstellation: Die Befehlshaber quälen die aufgelesenen Rekruten, die meisten davon Kurden. Die müde Demutshaltung, mit der Ako, auf den sich die Handlung bald konzentriert, und seine zwei Freunde die Schikanen über sich ergehen lassen, ist auf ihre Weise beredt: Sie sind es gewöhnt, sie fügen sich mit Fatalismus und einer Spur subversiver Affirmation. Bei der geforderten Lobpreisung Saddam Husseins ist auf jeden Fall keine noch so große Übertreibung fehl am Platz.

Ako muss schließlich in einen Krieg ziehen, bei dem ihm als Kurde die Rolle des Kanonenfutters zukommt. Nach einigen Scharmützeln, die der Film als sinnlose Ballereien zeigt, in denen hoffnungslose Konfusion herrscht, erhält er einen Spezialauftrag: Er soll einen toten Soldaten in dessen Heimat bringen. Den mit Flaggen bedeckten Sarg auf dem Autodach bricht er in Begleitung eines „arabisch-irakischen“ Fahrers auf, der aus seiner mangelnden Sympathie für Kurden keinen Hehl macht. Was nach schneller Erledigung aussieht, wird zu einer Odyssee durch die absurde Irrealität des Landes. Sie dürfen zum Beispiel nicht durch Städte fahren– der Sarg auf dem Autodach könnte die Bevölkerung demoralisieren, meint der Militärposten. Aber wie sollen sie sich verpflegen, wenn sie die ganze Zeit auf einsamer Landstraße bleiben müssen?

Absurde Situationen sind Saleems Spezialität. Stets bleibt die Kamera unbeweglich; vor ihr entfalten sich in beklemmender Bedächtigkeit Tableaus unhaltbarer Zustände. Hauptdarsteller Nazmi Kirik als Ako macht dazu das an Buster Keaton erinnernde Dead-Pan-Face, und als Running Gag fährt immer irgendwo eine Saddam-Hussein-Statue mit Grußarm durchs Bild.

Bereits in „Vodka Lemon“, mit dem er in Europa bekannt wurde, setzte Saleem diese besondere Mischung aus Tragik und Komik ein, in der Landschaft und agierende Personen eine poetische Symbiose eingehen. „Vodka Lemon“ machte so den wunderbaren Eigensinn der armenischen Bergbewohner sichtbar, die unter widrigsten Lebensumständen ihre Würde nicht aufgeben. Aus Komik und Tragik wurde Melancholie, die dem Aberwitz zuzwinkert und die Kunst des Überlebens feiert.

In „Kilomètre Zéro“ aber verleihen die gleichen Stilmittel dem Geschehen etwas Unwirkliches, Entrücktes. Was auch daran liegen mag, dass man heute unter „Befreiung“ im Irak etwas anderes versteht als damals. Als Ako und seine Frau im Pariser Exil vom Sturz Saddams erfahren, zeigt der Film, wie sie „Wir sind frei!“ aus dem Fenster rufen. Ihre Freuderufe verhallen unerwidert über den Dächern.

BARBARA SCHWEIZERHOF

„Kilomètre Zéro“. Regie: Hiner Saleem. Mit Nazmi Kirik, Eyam Ekrem, Belcim Bilgin, F/Kurdistan 2005, 96 min