: Reformverweigerer unter sich
Es klang wie das Ende von Schule. Vor wenigen Wochen kapitulierten die Lehrer der Berliner Rütli-Oberschule. Sie baten die Schulbehörden entnervt um Auflösung der Einrichtung. Weil dort, wie sie schrieben, „Schüler/innen gesammelt werden, die weder von den Eltern noch von der Wirtschaft Perspektiven aufgezeigt bekommen, um ihr Leben sinnvoll zu gestalten.“
Das roch nach Untergang, nach Kollaps und Endzeitstimmung. Doch Berlins Schulsenator Klaus Böger (SPD) mochte nicht mit kapitulieren. Er wedelte mit dem Scheckheft gegen die Schulkrise an. Er versprach, 50 zusätzliche Lehrer für Hauptschulen einzustellen.
50 Lehrer mehr für 55 Hauptschulen in Berlin, das wäre nicht ganz ein Lehrer mehr pro Schule gewesen. Klaus Böger bot also kein big money, sondern eher peanuts – aber nicht mal die Erdnüsschen bekam er. Der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit fuhr ihm in die Parade. Die Botschaft des Landesvaters war eindeutig: Selbst wenn euch die Schulen um die Ohren fliegen – mehr Geld gibt’s nicht.
So geht das meistens in der Bildungspolitik unter der Ägide der Bundesländer. Sonntags, wenn Ministerpräsidenten wie Wowereit bei Bierfesten auf wütende Eltern treffen, machen sie auf generös. Sie schwärmen vom Wissen als einzigem Rohstoff Deutschlands, versprechen mehr Geld fürs Schulwesen – und stellen montags fest, dass sie es gar nicht haben. Unabhängig von der Parteifarbe übrigens, zuletzt war es der CDU-Ministerpräsident Nordrhein-Westfalens, Jürgen Rüttgers, der seine vollmundigen Bildungsversprechen nur halb einlöste
Der Politikwissenschaftler Manfred G. Schmidt hat untersucht, ob es sich bei dieser Knausereien nur um Episoden handelt. Er kam zu dem Ergebnis, dass das Deckeln von Bildungsetats durchgehende Politik der letzten 30 Jahre ist. Eine der Ursachen sieht er darin, dass die bildungspolitische Zuständigkeit bei den Bundesländern liegt. Deren Finanzbudgets sind aber so knapp bemessen, dass fast immer „Konkurrenzsituation [entsteht], die die Bildung regelmäßig benachteiligt“. Ohne die Unterstützung eines Schutzpatrons auf Bundesebene, sprich: den Bund, meint der Heidelberger Politikprofessor, könnten die deutschen Bildungsfinanzen international nicht konkurrieren. [1]
Die Zahlen bestätigen Schmidt. Knapp 90 Milliarden Euro staatlicher Gelder fließen jährlich in Kindergärten, Schulen und Wissenschaft. Das ist viel Geld. Gemessen an ihrem Anteil am Bruttosozialprodukt gehen die Bildungsausgaben der öffentlichen Hand jedoch beständig zurück. Deutschland ist inzwischen im unteren Drittel der so genannten OECD-Welt der Industriestaaten angelangt. Die Bildungsausgaben machen 4,3 Prozent des Sozialprodukts aus – damit ist wieder der Stand von Anfang der 1970er-Jahre erreicht. Staaten wie Dänemark, Norwegen oder Schweden investieren fast 7 Prozent ihrer jährlichen volkswirtschaftlichen Kraft in die Köpfe junger Menschen. Grob gerechnet müsste Deutschland rund 50 Milliarden Euro mehr in seine Bildungseinrichtungen stecken, um auf diesen Wert zu kommen. Jährlich.
Doch wie reagiert jenes Deutschland, das auf dem Weltmarkt der Innovationen mit den Pisa-Siegern Finnland, Japan oder Südkorea mithalten will? Versucht es deren gewaltige Bildungsinvestitionen zu erreichen? Baggert es den Schutzpatron im Bund an? Nein, das Gegenteil geschieht. Gerade wird eine Föderalismusreform durchs Parlament bugsiert, welche die Bildungszuständigkeiten nunmehr komplett in die Hände der Länder legt. Obendrein soll dem Bund jeder Bildungszuschuss an seine 16 Teilstaaten per Grundgesetz untersagt werden. Spötter meinen, schlimmer hätte es nicht kommen können – außer man hätte Bundeshilfen gleich unter Strafe gestellt.
Die hundertprozentige Föderalisierung des deutschen Bildungssystems ist freilich nicht nur in quantitativer Hinsicht ein Problem. Auch qualitativ schaut die Forscherszene mehr als skeptisch auf die drohende Vollzuständigkeit der Bundesländer für Kindergärten, Schulen und Hochschulen. Dabei rückt das Koordinierungsorgan für alle bildungspolitischen Fragen ins Blickfeld, die Konferenz der Kultusminister der Länder (KMK). Das ist nicht neu. Bereits 1978 warnten von der damaligen Bundesregierung bestellte Experten davor, die Konferenz neige zu schwerfälligen und undemokratischen Regelungen. Nur der Bundesgesetzgeber, sprich: der Bundestag könne „der in manchen Bereichen des Bildungswesens festzustellenden Neigung zu einer unübersichtlichen und für den Bürger kaum noch zu durchschauenden ‚perfektionistischen‘ Detailregelung entgegenwirken“, hieß es damals. [2]
Was die als Mängelbericht berühmt gewordene Bundestagsdrucksache 8/1551 auflistet, fand erwartungsgemäß nicht den Gefallen der Bundesländer. Aus heutiger Sicht liest sich das Papier wie ein Drehbuch für das, was deren Kultusminister in ihrer Ständigen Konferenz dann tatsächlich aufführten – einen grotesken Tanz Marke Einen-Schritt-vor-zwei-Schritte-zurück.
Zum Beispiel bei der Gesamtschule, damals immerhin die favorisierte Alternative zu dem überkommenen Nebeneinander von Haupt-, Realschulen und Gymnasien. Die Kultusminister beschlossen in der Bildungsexpansion der 1970er-Jahre, die Gesamtschule erst probeweise, dann flächenweit einzuführen. Doch dann stockte der Prozess. Die KMK selbst begann, die Umsetzung zu behindern und zu verzögern. Erst 1982 konnten sich die Kultusminister einigen, die Abschlüsse aus integrierten Gesamtschulen gegenseitig anzuerkennen. Der Beschluss, gefasst in einer Geheimsitzung, strangulierte die Entwicklung der Gesamtschule. Der neuen Schulform wurde aufoktroyiert, die Schüler in Hauptfächern bereits ab der 7. Klasse nach Leistung voneinander zu trennen. Das hieß: Die Gesamtschulen, ursprünglich dazu erdacht, das scharf gegliederte Schulwesen zu überwinden, wurden gezwungen, deren antiquiertes Auslesesystem im Kleinen nachzubilden.
Die Zwangstrennung der Schüler in verschiedene Klassenzimmer und Leistungsgruppen mag wie eine pädagogische Petitesse erscheinen. Sie ist es aber nicht. Mit der Gesamtschule wurde nicht nur eine Schulart und Marke ruiniert. In dem Auslesebefehl der Kultusminister liegt der Schlüssel für zwei vergebene Chancen der jüngeren Bildungsgeschichte.
Zum einen mussten die Gesamtschulen misslingen, wenn man ihnen äußere Trennung befahl. Machten sich die Schüler auf die Suche nach den vorgeschriebenen A-B-C-Kursen, waberten stets kleine Völkerwanderungen durch die Schulhäuser. In Klassenkonferenzen saßen wegen der vielen Kurse pro Klasse bis zu 25 Lehrer mit am Tisch. Kurz: Die Gesamtschule wurde chaotisiert. Die anderen Schulformen, bei den die Kinder bereits mit zehn Jahren getrennt werden, konnten sich so als die Regel behaupten. Das dreigliedrige Schulsystem gilt aber als die Institution, welche die Unterschiede der sozialen Herkunft nicht etwa dämpft, sondern verstärkt. Jutta Allmendinger, die Direktorin der Forschungsinstituts der Bundesagentur für Arbeit, macht sie sogar für die neue „Bildungsarmut“ in Deutschland haftbar. [3]
Zum anderen verhinderte die fortgesetzte Trennung der Schüler Fortschritte in der Unterrichtskultur. Der deutsche Lehrer durfte weiter der Fiktion anhängen, er habe es im Unterricht mit homogenen Leistungsgruppen zu tun. Denn er konnte jene, die den Lerngleichschritt störten, nach unten wegsortieren – selbst in den Gesamtschulen. Kein Pädagoge brauchte also darüber nachzudenken, was heute als der große pädagogische Vorteil der Pisa-Sieger angesehen wird. Dass ihre Lehrer gelernt haben, die Klassen intern klug zu differenzieren, um alle Schüler anregen und mitnehmen zu können. Auch Jürgen Baumert, Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, bedauert, dass die Schulen „diesen professionellen Erfahrungsschatz erst allmählich wiedergewinnen“. [4]
Zurück zum Föderalismus: Die bevorstehende Neuordnung des Bundesstaats soll die Bildungskompetenzen der Bundesländer erheblich stärken. Auch heute, wenn der Bundestag seine große Föderalismusanhörung fortsetzt, wird wieder gepredigt werden, dass dies gut für den Wettbewerb der Länder um die beste Schule sei. Bei den Bildungsreformen der 1970er-Jahre allerdings ließ das Koordierungsorgan der Länder, die Kultusministerkonferenz, diesen Wettbewerb gar nicht erst zu. Sie beförderte den Wandel nicht, sie sabotierte ihn geradezu.
Die Folgen der Reformblockade sind heute zu bestaunen. Im deutschen Bildungswesen sind noch im 21. Jahrhundert die überkommenen Grundmuster aus Kaiserreich und ausgehender Weimarer Republik wirksam. Im Zentrum die Schule, die Bildungschancen streng entlang der sozialen Herkunft vergibt. Daneben eine weitgehend unterentwickelte öffentliche Betreuung in bildungsfernen Kindergärten. Und eine berufliche Ausbildung, die ihren Glanz allenfalls in Zeiten des Wirtschaftswunders entfalten konnte. Die Bremer Gesellschaftswissenschaftlerin Karin Gottschall nannte dieses Bildungsarrangement bereits im Jahr 2001 einen gravierenden Modernisierungsrückstand der Bundesrepublik. Die Ergebnisse der ersten Pisa-Studie, veröffentlicht Ende 2001, gaben ihr – leider – Recht. [5]
Pisa – zur Erinnerung – zeigt, dass in Deutschland das Kind eines Arztes eine viermal so große Chance hat, aufs Gymnasium zu kommen wie das Kind einer Friseurin – selbst dann, wenn beide die gleiche Intelligenz aufweisen. Das soziale Milieu bestimmt also immer noch den späteren Bildungserfolg. Das war bereits 1890 anstößig, als Kaiser Wilhelm II. sich auf einer Schulkonferenz anschickte, das deutsche Bildungssystem für die Industrialisierung fit zu machen. Im 21. Jahrhundert ist eine solche Abhängigkeit schlicht nicht akzeptabel.
Die Situation verschärft sich indes weiter. Die Wissenschaft diagnostiziert mittlerweile eine „neue Schwäche des deutschen Bildungssystems“, wie es der Göttinger Berufsforscher Martin Baethge formuliert. Baethge untersucht seit langem den faktischen Kollaps eines Teils des deutschen Bildungsarrangements, die berufliche Ausbildung. Früher war sie geachtet – weil sie den Nachschub an qualifizierten Facharbeitern lieferte. Solange dies funktionierte, konnte es die (Industrie-)Gesellschaft hinnehmen, dass sie durch das Bildungssystem sozial geschichtet wurde.
Heute ist das anders. Die Wirtschaft hat bereits seit längerem nicht genug Jobs für die Halbgebildeten des Schulsystems, das sind die Risikoschüler aus der Pisa-Studie. Nun tritt der Effekt ein, den die Lehrer der Berliner Rütli-Schule in ihrem Auflösungsbrief beklagen: Die Perspektivlosigkeit schwappt zurück in die Schule – und zersetzt sie zusehends. Oder, wie Baethge es sieht: In einer Wissensgesellschaft droht der Schichtungseffekt, den das Bildungssystem ausübt, gravierende Folgen zu haben. Er führt zu einer „kaum noch reversiblen Spaltung der Gesellschaft, mit dauerhaften Ausschlusstendenzen für die un- beziehungsweise gering qualifizierten Bevölkerungsgruppen.“[6]
Das deutsche Bildungssystem steht wie eine Ruine im 21. Jahrhundert herum. Die Wissenschaft bittet immer dringender, dass die Politik es als Anschauungsobjekt nutzen möge – um daraus für einen grundlegenden Umbau zu lernen. Die Bundesländer und ihre Kultusministerkonferenz sehen das anders: Sie bestehen darauf, dass die Jugendlichen in dieser Ruine weiter lernen sollen.