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Archiv-Artikel

„Straßen führen durch die menschliche Welt“

Verkehrsplaner Hans Monderman vom Keuning Instituut in Groningen erklärt, warum Verkehrsschilder in Ortsdurchfahrten eher schaden als nützen. Die räumlichen Eigenheiten würden dadurch eingeebnet. Ziel müsse sein, dass Städte und Dörfer wieder nach sich selbst aussehen

taz: Ihr „shared space“-Konzept ist in aller Munde, überall liest man davon, es ist ein EU-Projekt. Warum?

Hans Monderman: Ich weiß auch nicht, woran das liegt: Ich mache das schon seit über 20 Jahren. Es hat immer geklappt. Aber bis 2004 hat es nie jemanden interessiert – weil es nicht ins Denken der Verkehrs-Ingenieure passt. Vielleicht spüren wir allmählich, dass unser bisheriges Verkehrskonzept an seine Grenzen stößt. Man merkt: Immer mehr Schilder und immer mehr Regeln – das hat keinen Zweck.

Ihr Ansatz klingt ziemlich psychologisch. Spielen mentale Unterschiede da nicht auch eine Rolle? Lässt sich das Konzept aus den Niederlanden ins deutsche Bohmte übertragen?

Das habe ich mich auch immer gefragt. Dann hat es den Versuch in London gegeben. Der Bürgermeister wollte shared space auf der Kensington High Street anwenden. Es gab großen Widerstand, die Leute sagten: Das geht nicht, das wird zu Unfällen führen. Er hat sich durchgesetzt. Und es funktioniert: Die Unfallzahlen sind um 60 Prozent zurück gegangen. Es klappt also sogar in einer Großstadt. Natürlich gibt es kulturelle Unterschiede – aber Menschen sind universell. Die Gefühle und die Probleme sind überall die gleichen.

Wie radikal muss shared space umgesetzt werden? In Bohmte werden zwei Kreuzungen umgebaut.

Ich habe keine spezielle Meinung zu Bohmte und kenne die deutschen Gesetze nicht. Natürlich können sie nicht besonders viele Schilder abbauen, wenn Sie in einem Dorf zwei Kreuzungen umgestalten. Das Konzept sagt aber auch nur, wie man mit räumlichen Informationen umgehen kann. Das Ziel ist: Bohmte ist Bohmte und sieht auch so aus wie Bohmte. Das und die Rechtsfahrregel – mehr braucht man nicht, um den Verkehr dem Ort anzupassen.

Wie denn das?

Ich meine, eine Straße sollte lesbar sein wie ein Buch. Oder, ein anderes Bild: Wenn ein Architekt ein Haus entwerfen würde und alle Zimmer darin sähen gleich aus, dann würden Sie sagen: Der spinnt. Der ist völlig verrückt.

Ja.

Bei der Verkehrsplanung halten wir aber genau das für Qualität. Alle Ortsdurchfahrten sollen möglichst gleich aussehen. Dabei hat jedes Dorf eine Identität, auf die man früher stolz gewesen ist und die sich in räumlichen Eigenarten ausdrückt. Alles uniform zu machen, durch Regeln und Schilder – das ist verrückt. Und wenn man die Leute ständig anleitet und behandelt wie Idioten, benehmen sie sich irgendwann wie Idioten, wen wundert das.

Gilt das auch für diese gut gemeinten Tafeln mit Bildern von Schulkindern, auf denen steht „Bohmte gibt Acht“?

Wenn Sie solche Schilder brauchen, stimmt etwas mit der Straße nicht. Die Schilder können ja nichts erzählen, was nicht bereits auf der Straße zu sehen ist.

Die Demontage der Schilder ist aber nicht alles. Sie benutzen auch farblich abgehobene Straßenbeläge. Ist das nicht das Gleiche wie ein Verkehrsschild, das sagt: ‚aufgepasst!‘?

Nicht ganz. Der Belag passt die Straße an die Welt der Menschen an. Es ist ja so: Jede Fahrt fängt an und endet in der Welt der Menschen. Die Straße wird dagegen anonymisiert, weil Verkehrsingenieure sie nur als Möglichkeit betrachten, um von A nach B zu kommen. Straßen haben aber noch ein anderes Ziel.

Welches denn?

Sie haben das Ziel, dass sich Leute auf ihnen treffen. Das galt früher für alle, und ich bin sicher, dass 80 Prozent unserer Straßen noch immer diese Funktion haben. Sie führen durch die menschliche Welt. Wir kennen mittlerweile auch Autobahnen und Schnellstraßen – da ist das anders. Da braucht man auch Schilder und Regeln. Aber in der menschlichen Welt brauchen Sie die nicht. Wenn Sie bei jemandem zum Geburtstag eingeladen sind, stellt der auch keine Schilder auf: Bitte nicht auf den Boden spucken. Um sich nett zu benehmen, brauchen Sie kein Schild. Die Regeln wirken sich sogar negativ aus.

Inwiefern?

Ein Beispiel, das ich gerne erzähle stammt aus einem Altenheim. Da hatte sich die Heimleitung gedacht: Wir müssen die Bewohner dazu bringen, mitzuhelfen und ihre Betten zu machen. Also haben sie gesagt, wer sein Bett macht, bekommt eine Prämie. Was glauben Sie, ist geschehen?

Keine gemachten Betten?

Doch. Die Bewohner haben aber nur noch die Betten gemacht – und sonst gar nichts. Sie haben sich gedacht: Warum soll ich das Zimmer aufräumen, so ohne Prämie? Überall, wo derart reguliert wird, geht die Möglichkeit, ethisch richtige Entscheidungen zu treffen, verloren. Ohne die gibt es aber keine civility, keine Höflichkeit. Die Regeln nehmen die eigene Verantwortung weg.

Also am besten gar keine Regeln –sondern ein nur durch Vernunft geregelter Verkehr?

Da fahre ich ein bisschen mehr durch die Mitte. Ich bin fest davon überzeugt, dass es Regeln geben muss – etwa die Rechtsfahrregel. Der Punkt ist: Regeln sind immer zu eng oder zu weit. Sie passen zu uniformen Autobahnen. Aber sie passen nicht in eine individuelle Umgebung.

INTERVIEW: BENNO SCHIRRMEISTER