10. „Orange Blossom Special“ : Indierock verregnet in Beverungen
„Zu wenig Sonnenschein, zu viel Regen“: Diese eigentlich auf eine Beziehung gemünzte Textzeile von Tilman Rossmy bringt das Jubiläumswochenende auf den Punkt. Vier – statt wie sonst drei – Tage lang feierte die Independent-Plattenfirma Glitterhouse in Beverungen im Weserbergland ihr zehntes „Orange Blossom Special“-Festival. Vor 2.000 Zuschauern spielten 27 Bands – Singer/Songwriter und Indierocker – und fast die ganzen vier Tage lang schüttete es von oben herab. Als am Sonntag dann doch die Sonne kam, war der Rasen hinter der Glitterhouse-Jugendstilvilla ein einziges Schlammfeld.
Bis zu neun Musiker quetschten sich auf die kleine Bühne. Ein Highlight für die Labelmacher war der Auftritt der „Walkabouts“: Die Indie-Veteranen sind Glitterhouse seit 18 Jahren verbunden und wurden – einem Sponsor sei Dank – eigens für das Festival aus Seattle eingeflogen. Überraschungssieger waren aber wohl „Okkervil River“. Deren Sänger Will Sheff tobte wie ein Irrer über die Bühne, schaffte es aber trotzdem, als einziger Anwesender keine Matschkruste auf den Schuhen zu haben: Trotz aller Widrigkeiten trat er in lupenrein geputzten Lackschuhen auf.
Gegen schlechte Stimmung sollte Kampftrinken helfen. Labelchef Reinhard Holstein predigte Liebe und empfahl gegenseitiges Nackenkraulen. Zusammen mit Festival-Cheforganisator Rembert Stiewe gab er zwischen den Acts auf der Bühne westfälischen Herrenhumor zum Besten. Die Musiker tummelten sich im Publikum, gaben Autogramme und waren für einen Schwatz zu haben. Der Ruf einer familiären Atmosphäre umgibt das Festival seit seinen Anfängen.
Martin Pracht aus Hannover mag Alternative Country und irischen Folk. Wie alle regelmäßigen schätzt er die Entspanntheit, die das Festival prägt. Das Gute am „Orange Blossom Special“ sei, „dass ich noch nie erlebt habe, dass es Stress gibt“. Es klinge „vielleicht komisch“, meint Rembert Stiewe, „aber wir haben hier ein paar Expraktikanten, die Sozialarbeiter sind. Die beruhigen die Leute, wenn es Probleme gibt.“ Ihm ist es wichtig, dass auch der Service stimmt. Es koste zwar, „da ein paar Dixie-Klos mehr hinzustellen. Aber dafür fühlen sich die Leute wohl und kommen wieder.“
Das scheint sich auszuzahlen: In den zehn Jahren seines Bestehens war das Festival zumeist innerhalb weniger Stunden ausverkauft: Musikliebhaber aus ganz Deutschland und den Nachbarländern strömen regelmäßig in die beschauliche Kleinstadt. „Da gucken die Einheimischen immer bass erstaunt, wo die ganzen Autokennzeichen herkommen,“ erzählt Stiewe. Anfangs hätten die Leute gedacht, „zu so einem Festival würden nur wilde Rocker kommen, die ihre Töchter verführen und die Vorgärten vollpinkeln“. Inzwischen aber hätten sich viele Beverunger persönlich von der Harmlosigkeit des Veranstaltung überzeugt. Mittlerweile ist das „Orange Blossom Special“ auch eine Art Treffen der Generationen.
Angefangen hat alles mit einer Hand voll Bands, die auf einer improvisierten Bühne aus Europaletten auftraten. „Damals gab es hier noch keinen Zeltplatz“, erinnert sich ein weiterer Hannoveraner, der von Anfang an dabei ist, der sich „Schmitti“ nennt. „Wir haben bei Bauer Harms unter der Eiche gepennt.“ Auch damals, erzählt er, habe es „geschüttet wie aus Kübeln“. Seitdem zelebrieren Schmitti und seine Kumpels das Festival, bei dem, meint der untersetzte Zweimeter-Mann, „das Publikum der Star“ sei. Zum Ritual gehöre es, mittags, nach dem Aufstehen, in der örtlichen Gaststädte „Kuhn“ erst mal eine Beverunger Spezialität zu verzehren: den „Gehängten“. „Das ist ein Korn mit einer Sardelle darüber“, erklärt Schmitti. „Erst zerkaut man den Fisch und spült ihn dann runter. Beim ersten Mal dachte ich, jetzt tapezier‘ ich die Wand neu.“
Weniger begeistert war Schmitti davon, dass im zehnten „Orange Blossom Special“-Jahr erstmals auch Fernsehkameras des WDR dabei waren: Er fürchtet um die Intimität es Festivals. Auch mit der Länge waren Veranstalter wie auch mancher im Publikum überfordert: Nach drei Regentagen reisten sogar hartgesottene Fans wie Schmitti vorzeitig ab. Cheforganisator Stiewe wusste es schon vor dem Jubiläum: Beim nächsten Mal werde das Festival „ganz bestimmt wieder nur drei Tage dauern“. BARBARA MÜRDTER