scheitel, typus etc.
: Physiognomie der „Jungen Freiheit“

Ein junger Mann, eher klein, blonder Mittelscheitel, Anzug, langer, schwarzer Mantel. Er schreitet den Bahnsteig des U-Bahnhofs auf und ab und spricht selbstgefällig laut in sein Handy. Offenbar genießt er diese Rolle. Später im Zug bricht die Verbindung ab, und man ist schadenfroh und erleichtert, weil Ruhe einkehrt.

Der junge Mann widmet sich seiner Zeitung, er liest die Junge Freiheit. Da er eben einen „Artikel“ erwähnt hat, den er schreiben werde, nimmt man unwillkürlich an, er sei ein rechter Journalist. Damit ist auch klar, warum man ihn gleich so unsympathisch fand. So aufdringlich kann sich nur ein Rechter benehmen, dessen vorauseilende Dreistigkeit Reflex der allgemeinen Ächtung im intellektuellen Milieu ist.

Er sah gleich so nach Junger Freiheit aus. Dieses Mr-Bean-hafte seiner Züge (sicher war er in der Schule ein Außenseiter und versucht das heute mit Schnöselhaftigkeit zu kompensieren), die Kostümierung als Jungunternehmer („Stört es euch, dass ich seriös aussehe? Wer hat hier die Vorurteile?“). Andererseits ist die Physiognomik nie eine ernsthafte Wissenschaft gewesen. Gibt es einen konservativen physiognomischen Typus? Schreibt sich die politische Biografie eines Menschen in seine Gesichtszüge ein? Es ist doch immer irritierend, wenn bei Fotos von sympathischen älteren Herren die Bildunterschrift verrät, dass es sich um lang gesuchte Nazischlächter handelt.

Wer sagt mir, dass ich hier keinen linken Autor vor mir habe, der sich aus Recherchegründen der Jungen Freiheit widmet? Aber er sieht doch schon so aus! Sicher, aber ist es nicht gerade die Politik der Nazis gewesen, Menschen nach fiktiven Äußerlichkeiten („große Nasen“, „dunkle Haut“) zu klassifizieren? In einem Lateinbuch aus der Nazizeit habe ich einmal auf einer Seite mit Abbildungen römischer Büsten gelesen: „Die Köpfe der republikanischen Zeit zeigen die zunehmende Vergeistigung und politische Überlegenheit, die die Gründung des Weltreichs herbeiführte. Bei diesen Köpfen sind die Kennzeichen der nordischen Rasse unverkennbar. Die schon in der frühen Kaiserzeit eindringenden zersetzenden Kräfte des Ostens zeigen sich deutlich an dem semitischen Einschlag des ‚römischen‘ Bankiers Cæcilius Jucundus aus Pompeji.“

Und ich schließe von den Gesichtszügen eines Fremden auf seine politische Einstellung! Andererseits, wie oft haben mir rechte Idioten nachts in irgendwelchen Straßenbahnen lautstark unterstellt, ich sei „links“. Auch wenn man versuchte, neutral auszusehen, sie haben einen immer erkannt. Aber woran?

JOCHEN SCHMIDT