: „Horst, du Horst …“
NACH DEM RÜCKTRITT DES GELIEBTEN BUNDESPRÄSIDENTEN Bericht aus der Hauptstadt eines trauernden Landes am Rande der Verzweiflung
BERLIN taz | Ein Land in der Schockstarre. Immer wieder brechen in den Straßen der Hauptstadt Menschen verzweifelt zusammen. Übermannt von der Trauer, lassen sie ihren Tränen freien Lauf. Niemand kann es hier fassen. Ihr geliebter Bundespräsident ist zurückgetreten. Horst Köhler ist nicht mehr im Amt. Der gute Mann, der sie durch alle Lebenslagen geleitet und geführt hat, den sie bewundert und verehrt haben wie einen großen Vater, zu dem sie aufgesehen haben in guten wie in schlechten Zeiten.
Am Schloss Bellevue, dem Amtssitz des verlorenen Oberhaupts, stehen tausende Bürger und skandieren unablässig seinen Namen: „Horst, du Horst, du Horst …“ Frauen umklammern Stiefmütterchen, als ob es das Letzte ist, an dem sie sich festhalten können. Es sind die Lieblingsblumen ihres hochgeachteten Präsidenten, wie jedes Kind von den zahllosen Bundesgartenschau-Eröffnungen weiß, die jedes Jahr live in alle Haushalte übertragen wurden. Wie hat man da stets mitgelacht, wenn der fröhliche erste Mann im Staat seine heiteren Worte an die Massen richtete, man solle sich doch bitte schön an der gebotenen Pracht erfreuen. Das leuchtende Stiefmütterchen, das er immerzu in der Hand trug, wenn er im Land unterwegs war, das war sein persönliches Symbol und ein Zeichen seiner Zeit. Alles vorbei.
Tränen haben tiefe Kanäle in die Gesichter der Vorbeieilenden gegraben. Immer wieder bilden sich Menschentrauben um Korrespondenten und Kamerateams aus fremden Ländern. Man will wissen, wie das Ausland reagiert, und ist enttäuscht und stolz zugleich, wenn man erfährt, dass es noch keine offiziellen Kommentare zu ihrem Horst aus den Metropolen der Welt gibt. Denn auch unter den fremdländischen Staatsführern ist die Bestürzung immens groß, dass der hoch geschätzte Deutsche aus ihrer Mitte gerissen wurde. Noch fehlen den Königen und Präsidenten, den Hoheiten und Würdenträgern die Worte des Bedauerns. Zu überwältigend ist der Schmerz über den Verlust.
Die sonst so beliebten Bierlokale und Speisewirtschaften der Hauptstadt Berlin sind wie leergefegt. Nur wenige sind an einem solch schicksalschweren Tag nach dem Rücktritt zur Arbeit gegangen. Die meisten Bürger dieses Landes am Rande der Verzweiflung verfolgen zuhause an den Rundfunkempfängern und Bildschirmen die traurigen Nachrichten. In einer Endlosschleife in Zeitlupe präsentiert das Staatsfernsehen Aufnahmen aus der Amtszeit des gefeierten Horst. Die Bilder sind mit Trauermusik unterlegt, einem Requiem von Mozart.
Manche halten es daheim nicht mehr aus. Schwarz gekleidet laufen sie ziellos herum, als ob sie persönlich nach ihrem bewunderten Anführer suchen. Und jedes Mal geht ein Raunen durch die Grüppchen, die sich gefunden haben, wenn neue schreckliche Nachrichten aus dem Land eintreffen: So sollen sich in Frankfurt am Main sieben Mitglieder der Jungen Union Hand in Hand in den Main gestürzt haben. In Leipzig hat sich ein bekannter Priester selbst angezündet, heißt es. Und in München wurde zum ersten Mal in der Geschichte Bayerns der Biergarten im Englischen Garten geschlossen. Ein Raunen geht durch die Runde. Für einen Moment wird die Niedergeschlagenheit von purem Entsetzen überdeckt.
Eine Autokonvoi mit schwarzen Standarten jagt unter ohrenbetäubendem Sirenengeheul vorbei. Doch das lässt momentan jeden hier kalt. Neue Schauermeldungen treffen ein. Horst Köhler will nach seinem Rücktritt ins Ausland gehen, das Land, seine Landeskinder für immer verlassen, wird gemunkelt. Wie in Trance stürzen die einen davon, die anderen klammern sich an den Hals des Erstbesten. Und plötzlich geht ein Ruck, wie ihn sich der geliebte Präsident wahrscheinlich immer gewünscht hat, durch die Bekümmerten. Trotz übertönt die Trübsal. Schon stimmen sie mit hoch erhobenen Fäusten in den Ruf ein, der wohl zum Vermächtnis des größten Sohns des Landes werden wird: „Horst, du Horst, du Horst …“ MICHAEL RINGEL