: Doku beweist Abstiegsängste Elfjähriger
DOKUMENTARFILM Bildung ist zum Filmthema geworden. Dem Genre gelingt es, den ganz normalen Wahnsinn des deutschen Schulalltags endlich für alle sichtbar zu machen. Zum Beispiel klärte eine ZDF-Dokumentation über den Leistungsstress von Grundschülern sogar bayerische Bildungspolitiker auf
Nach einem langen Marathon mit Matheaufgaben liegt Anna im Pyjama in ihrem Etagenbett. Müde sagt das Mädchen: „Ab halb neun kann ich nicht mehr denken.“ Die Mutter steht stumm daneben. Dann reicht sie der Tochter das Heft ins Bett hinauf. Anna stöhnt. „Nur kurz noch mal anschauen vorm Einschlafen“, sagt die Mutter. „Zehn Minuten.“ Anna flieht unter die Decke.
„Ich mach schon Druck“, erklärt die Mutter anschließend. „Aber nicht immer.“ Ein Filmteam hält die Szene fest. Die Dokumentation „Das Jahr der Entscheidung“, die letztes Jahr im ZDF ausgestrahlt wurde, zeigt, unter welchem enormen Leistungsstress schon Grundschüler in diesem Land stehen.
Der Film ist eine von zahlreichen Bildungsdokumentationen, die in den vergangenen Jahren entstanden sind. Weil Kamerateams seit dem Pisa-Schock immer häufiger in Schulen drehen, hat die Dok-Film-Initiative des nordrhein-westfälischen Filmbüros diesen Werken in der vergangenen Woche eine Fachtagung in Köln gewidmet. Nicht selten lösen die Filme nach ihrer Ausstrahlung Reaktionen aus.
„Auf Schulthemen bekommen wir viel Rückmeldung vom Publikum“, bestätigt ZDF-Redakteurin Brigitte Klos. Die Dokumentation über den Leistungsstress von Grundschülern aber hat ein beispielloses Echo ausgelöst. Die Redaktion wurde mit unzähligen Mails und Briefen überschüttet, Eltern zeigten sich schockiert, Lehrer erleichtert, dass endlich der alltägliche Wahnsinn an den Schulen gezeigt wird. Sogar einer Gruppe bayerischer Bildungspolitiker wurde der Film vorgeführt – damit sie sich selbst ein Bild machen können von den Folgen ihrer Entscheidungen.
Vier Kinder aus Bayern hat Filmemacherin Maike Conway während des letzten und entscheidenden Grundschuljahrs begleitet. Das eigentlich Überraschende ist dabei, dass es kaum eines Kommentars aus dem Off bedarf, um zu zeigen, wie absurd, wie zerstörerisch das Wettrennen um Noten und Schulempfehlungen ist. Die Wirklichkeit entlarvt sich selbst. Und stellt Fragen, ohne sie aussprechen zu müssen.
Annas Mutter verfolgt ihre Tochter bis ans Bett, Alinas Mutter flüstert ihrer Tochter den Stoff nachts im Schlaf ein, damit er sich im Unterbewusstsein setzt, und ein Junge erzählt im Interview, dass eine Drei ihn so gerade noch freuen würde, um von seiner Mutter vor laufender Kamera korrigiert zu werden: „Nein, eine Drei auf der Grundschule, das ist schon blöd.“
Hintergrund der Hatz ist die besonders strenge bayerische Regelung, wonach für den Sprung auf Gymnasium oder Realschule vor allem der Notenschnitt entscheidend und die Spielräume für Elternwünsche klein sind. Viele Bildungssoziologen gehen davon aus, dass harte Leistungshürden eigentlich eher zu mehr Gerechtigkeit im Schulsystem führen – weil der Ehrgeiz betuchter Eltern, ihr Kind um jeden Preis in eine gute Position zu bringen, ausgebremst wird. Die Chancen im Bildungssystem, so die Theorie, sind nicht deswegen so ungleich verteilt, weil Kinder unterschiedlicher sozialer Schichten unterschiedlich gut in der Schule abschneiden, sondern weil die einen das Abitur wie selbstverständlich für ihren Nachwuchs reklamieren, während andere gar nicht davon zu träumen wagen. Klare Kriterien rücken die verschiedenen Ambitionen gerade. Damit Leistung zählt, nicht Herkunft.
Die Doku zeigt indes: Die bildungsbewusste Mittelschicht reagiert anders, als es die Theorie will. Wo man den Sprössling vielleicht früher noch mit einer Vier in Mathe sorglos aufs Gymnasium schickte, herrscht nun purer Lerndrill. Ist das besser? Aufschlussreich wäre es auf jeden Fall gewesen, wenn der Film auch gezeigt hätte, wie die typische Arbeiterfamilie auf die rigiden Schulwechsel-Regeln reagiert. Drillt man mit? Resigniert man? Oder nichts von beidem?
Ob reines Mittelschichtphänomen oder nicht – eine Erkenntnis vermittelt der Film auf jeden Fall: Weil die entscheidenden Weichen im deutschen Bildungssystem früh gestellt werden, lernen schon Grundschüler, dass sie um die Sonnenplätze in dieser Gesellschaft hart kämpfen müssen. Vor der Kamera räsonnieren sie, ob sie später einmal studieren und einen guten Beruf bekommen können. Die Abstiegsangst erfasst Elfjährige.
Woher kommt dieser Druck? Das ist das große Rätsel, mit dem der Film seine Zuschauer zurücklässt. Alinas Mutter, die ihre Tochter sogar zu psychologischen Begabungstest schleppt, sagt an einer Stelle: „Sie selbst hat den Wunsch, mit ihren Freundinnen aufs Gymnasium zu gehen. Wir versuchen, den Druck da rauszunehmen.“
BERND KRAMER
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