: Ungebremster Frust
VON BERNARD IMHASLY
In Afghanistans Hauptstadt Kabul sind gestern Unruhen ausgebrochen, als ein US-amerikanischer Geländewagen vom Typ Humvee im dichten Stadtverkehr eine Reihe von privaten Fahrzeugen rammte. Dabei sollen drei Personen ums Leben gekommen sein. 16 Personen wurden zum Teil schwer verletzt. Der Humvee war Teil eines Armeekonvois. Der Fahrer hatte offenbar die Kontrolle über sein Gefährt verloren. Nach dem Unfall griffen aufgebrachte Passanten die Soldaten an, worauf diese offenbar Schüsse abfeuerten. Laut einem Polizeisprecher wurde dabei ein Mann getötet.
Die Nachricht verbreitete sich rasch, und es kam in mehreren Stadtvierteln zu Demonstrationen. Polizeiautos wurden in Brand gesteckt, vereinzelt wurden Geschäfte geplündert. Rund 2.000 Personen versuchten, zum Parlament und dem Präsidentenpalast vorzudringen, und skandierten Slogans gegen Präsident Hamid Karsai und die USA. Immer wieder waren Schüsse zu hören, meist Warnschüsse der Polizei.
Der Zwischenfall und vor allem die Geschwindigkeit, mit der sich die Unruhen daraufhin ausweiteten, sind ein Hinweis auf die Malaise, die mit der andauernden Präsenz ausländischer Truppen und Zivilorganisationen immer mehr wächst.
Die politische und militärische Bevormundung, die mit dieser Präsenz einhergeht, lässt die jeweiligen Wahrnehmungen immer mehr auseinander klaffen. Die ausländischen Soldaten sehen sich als Beschützer, während sie für die Einheimischen auch Besatzer sind. Umgekehrt ist für das ausländische Militärpersonal jeder Afghane ein Schutzbefohlener, aber auch ein potenzieller Taliban oder Al-Qaida-Sympathisant.
Dies äußert sich gerade im Fahrverhalten der Konvois. Jeder Kabul-Besucher kennt die rüde Art, mit der sich US-Humvees im Stadtverkehr freie Fahrt verschaffen. Ein Soldat steht mit Gewehr im Anschlag in der Dachluke und dirigiert schreiend Zivilfahrzeuge zur Seite.
Die beidseitige Frustration steigt im gleichen Maße, in dem sich die Sicherheitslage wieder verschlechtert. Die Nachrichten aus Afghanistans Süden sprechen von einer Zunahme von Selbstmordattentaten, Minenexplosionen und Entführungen. Seit dem 17. Mai sind laut Koalitionstruppen 372 Menschen getötet worden, die meisten von ihnen Taliban, afghanische Soldaten und Polizisten.
Gestern griffen US-Kampfhelikopter erneut Stellungen der Taliban in einer abgelegenen Bergregion der Provinz Helmand an. Laut afghanischen Angaben kamen dabei rund fünfzig Taliban ums Leben. Auch in der immer noch relativ sicheren Hauptstadt wurden in den letzten Monaten verstärkt Selbstmordanschläge registriert – allein fünf auf der Straße zwischen dem Stadtzentrum und der Garnison der internationalen Schutztruppe Isaf.
Die Zunahme von Gefechten spiegelt das intensivierte Einsickern von Talibankämpfern aus Pakistan und die Aktivierung von Schläferzellen im Land. Beides ist nicht nur der saisonalen Verschärfung nach dem Winter zuzuschreiben.
Ein weiterer Grund ist die wachsende Distanz zwischen den USA und Pakistans Präsident Musharraf im Hinblick auf die Wahlen des nächsten Jahres im Nachbarstaat zu Afghanistan. Je lauter Washington das Demokratiedefizit des Generals kritisiert, desto mehr lässt Musharraf die USA spüren, dass er an seiner Macht nicht rütteln lassen will. Er tut dies, indem er die Taliban gewähren lässt. Nicht nur erteilt er damit den USA eine Lektion, er wiederholt dabei auch den Anspruch Islamabads auf eine wichtige Rolle in Afghanistan. Die verstärkte Rolle der Nato im Herzgebiet der Paschtunen mit mehr Truppen und aggressiven „Search and Destroy“-Missionen wird nicht nur von den Taliban, sondern auch von Pakistan als Kampfansage verstanden.