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Archiv-Artikel

Der Protest Hunderttausender in Kiew

EUROPA 350.000 Menschen demonstrieren in Kiew gegen ihre Machthaber und für Europa. Polizei setzt Tränengas ein. Die Opposition will bis zum Rücktritt von Regierungschef und Präsident protestieren

EU und USA besorgt

■ Die EU und die USA haben sich besorgt über die Gewalt gegen Demonstranten gezeigt. Die Europäische Union verurteile das „exzessive“ Vorgehen der Polizei gegen friedliche Protestteilnehmer „entschieden“, erklärten die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton und Kommissar Stefan Füle am Samstag in Brüssel.

■ Sie reagierten damit auf die Polizeieinsätze gegen Demonstranten in Kiew am Samstag. Eine Sprecherin des US-Außenministerium sagte in Washington, „Gewalt und Einschüchterung sollten keinen Platz in der heutigen Ukraine haben“. Die EU wie auch die USA betonten dabei das Recht auf Versammlungsfreiheit. (afp)

AUS KIEW ANDREJ NESTERKO

Am Sonntag strömen Zehntausende aufgebrachte Demonstranten in das Zentrum der ukrainischen Hauptstadt Kiew, um gegen die Abkehr der Regierung von der Europäischen Union zu protestieren. Am Nachmittag gehen Schätzungen von etwa 350.000 Protestierenden aus. Sie versammeln sich trotz eines gerichtlichen Verbots auf dem Unabhängigkeitsplatz und der Haupteinkaufsstraße Kreschtschatik. Auch anliegende Straßen sind fest in der Hand von EU-Befürwortern.

Das blutige Vorgehen von Einheiten der Sonderpolizei gegen friedliche Demonstranten am Samstag, bei dem Tränengas, Schlagstöcke und Blendgranaten eingesetzt wurden, hat im ganzen Land Entsetzen ausgelöst. „Weg mit der Bande!“ und „Ruhm für die Ukraine!“, skandieren die Massen am Sonntag. Aber auch in Cafés, auf Trottoirs und Rolltreppen machen diese Parolen die Runde. Immer mehr Menschen tragen als Zeichen der Verbundenheit ein kleines Band mit den Nationalfarben der Ukraine und der EU-Fahne. Sie rufen „Revolution“.

2004 noch waren die Menschen für etwas auf die Straße gegangen, für demokratische Veränderungen und für einen Sieg von Wiktor Juschtschenko bei den Präsidentschaftswahlen. Jetzt sind sie gegen Korruption, die Willkür der Machthaber und die Missachtung ihrer Rechte und Freiheiten. Auch viele ältere Menschen sind auf den Straßen unterwegs. Sie sind über das gewalttätige Vorgehen gegen ihre Kinder empört.

Mit der Forderung „Weg mit der Weihnachtstanne!“ reißen Demonstranten am Sonntagmittag auf dem Unabhängigkeitsplatz die Umzäunung für die Weihnachtstanne ein. Die Miliz schreitet nicht ein, sondern zieht sich zurück. Die Tanne ist in den Nationalfarben der Ukraine und mit dem Symbol der Europäischen Union geschmückt. Auch Kränze mit Trauerflor werden vor dem Baum niedergelegt.

Gewalttätige Aktionen bleiben nicht aus. Eine Gruppe Rechtsextremisten stürmt das Bürgermeisteramt. Vermummte bewegen sich mit einem Bulldozer auf Polizisten zu.

Als eine Gruppe versucht, das Präsidentenbüro zu stürmen, setzt die Polizei Tränengas und Blendgranaten ein. Die Organisatoren der Demonstration aus den Reihen der Opposition gehen von einer gezielten Provokation aus, was das Innenministerium später bestätigt. Wie viele Menschen verletzt werden, ist unklar. In ersten Berichten der Staatsmacht ist von rund 100 verletzten Polizisten die Rede.

Wie es mit den Demonstrationen weitergehen wird, lässt sich nur schwer abschätzen. „Wir werden hierbleiben, bis unsere Forderungen erfüllt sind: Rücktritt der Regierung, Rücktritt des Präsidenten“, sagte der Oppositionsführer und Boxweltmeister Vitali Klitschko. Zugleich verurteilte er die Ausschreitungen.

„Weg mit der Bande!“ „Ruhm der Ukraine!“ „Revolution!“

PAROLEN IN KIEW

Der Chef der rechtspopulistischen Partei Swoboda (Freiheit) ruft zu einem landesweiten Generalstreik aus. „Wir bleiben hier“, ruft Tjagnibok in die Menge der Demonstranten.

Am Sonntag wird bekannt, dass einige führende Abgeordnete der regierenden „Partei der Regionen“ zurückgetreten sind. Medien zufolge ist auch der Chef der Präsidialadministration, Sergei Lewotschkin, darunter. Am Abend machen Gerüchte die Runde, dass am Montag landesweit der Ausnahmezustand verhängt werden könnte.

Aus dem Russischen Bernhard Clasen