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Archiv-Artikel

Herr Mehdorn, Vopos bitte!

Die neuen Supermarktbahnhöfe und Tunnelsysteme haben eine geheime Bestimmung: als DDR-Museum

Stellen wir uns einmal vor, ein Supermarkt wäre mit anderen Supermärkten durch eine Röhre verbunden – dann ungefähr hätten wir das, was Südkreuz, Potsdamer Platz, Hauptbahnhof und Bahnhof Gesundbrunnen zusammen darstellen. Das bestreitet niemand, der Herr der Deutschen Eisenbahn, Hartmut Mehdorn, ist sogar ein bisschen stolz darauf. Er mag seine Supermarktkette, er hält sie für „modern“. Die Kaiser’s-Filiale im Hauptbahnhof schließt sogar erst um 23 Uhr, daher dürfen wir sagen, dass der Hauptbahnhof der späteste Supermarkt der Republik ist.

Schade nur, wenn schon um 22 Uhr niemand mehr hineingeht. Am ersten Abend, nachdem die Eröffnungseuphorie verflogen ist, ist tatsächlich kaum jemand im Bahnhofssupermarkt, und auch im Supermarktbahnhof können die Putzkräfte ungestört die Perrons putzen. Die Glasfenstertüren vor den Billigfilialen werden rasch geschlossen, Versprengte irren herum, das Aufsichtspersonal langweilt sich und die Kaffeeverkäufer bei McDonald’s haben sogar Zeit, freundlich zu sein.

Auch wenn die hervorragend sortierte Heinrich-Heine-Buchhandlung ehedem den Bahnhof Zoo verlassen musste und der Leipziger Hauptbahnhof in ein Parkhaus mit Wurstbuden verwandelt wurde, in dem Züge eher aus Versehen halten – doch erinnern diese Bahnhöfe mit ihren entkernten und hernach mit Billigmüll gestopften Hüllen an eine Zeit, in der Bahnhöfe noch Orte des Aufenthalts, nicht nur des Abschieds waren. Beim Hauptbahnhof hat die Bahn AG von vornherein alles vermieden, was Stimmung bringen könnte. Erinnerungen an den Lehrter Stadtbahnhof wollte man gar nicht erst aufkommen lassen, eine menschlichere Bahnarchitektur hat man den Architekten verwehrt. Jetzt haben wir diesen Monsterbau, den man auch für eine Autofabrik oder eine große Badeanstalt halten könnte.

Schon bei der Eröffnung war abwesend, was Bahnhofsfeste bisher ausgemacht hatte – die Eisenbahn und ihre Tradition. Der Geist dieses Bahnhofs findet sich eher in den auffällig schlecht ausgestatteten Läden von Gerry Weber und Virgin. Zwar hatte man einen historischen Dieseltriebwagen hingestellt, doch den musste man in dem zugigen unteren Tunnel, in dem das Licht mies ist, erst mal suchen gehen.

Fahrgäste sollen sich nicht aufhalten hier, sie sollen hochgehen und kaufen und dann bitte schnell gehen. Hat man sich in einem der beiden Zeitungsläden – man kann ja mal – eine Zeitung gekauft, könnte man sie sowieso kaum lesen im Bahnhof, weil es dort keine Bänke gibt und kein wirkliches Café.

Die zu einem Bahnhof normalerweise gehörenden Irren, die Trinker und die Jugendlichen, sucht man ebenfalls vergeblich – und man muss noch nicht einmal annehmen, dass die allgegenwärtigen Wachmänner sie vertrieben haben. Was sollen sie schon an diesem toten Ort, den die genauso toten Orte Europa- und Washingtonplatz in ihre Mitte genommen haben und der abends aussieht wie das Einkaufszentrum Gesundbrunnen nach Ladenschluss? Doch lieber am Zoo, an der Friedrichstraße oder am Ostbahnhof bleiben, wo wenigstens noch ein bisschen Leben sein darf.

Wenn man um 22.30 Uhr in den RE Richtung Südkreuz steigt, fährt man durch einen weiteren verwaisten Bahnhof, den am Potsdamer Platz. Und plötzlich weiß man, wozu die Tunnelröhre und ihre toten Bahnhöfe gebaut worden sind – als DDR-Museum nämlich. Alles ist wie auf einer Fahrt 1988 unter Ostberlin durch, an den Geisterbahnhöfen entlang, die schummrig schlecht beleuchtet daliegen. Nur fehlen heute die Vopos auf den dunklen Bahnsteigen. Aber die wird Hartmut Mehrdorn sicher auch noch herbeischaffen können.JÖRG SUNDERMEIER