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Archiv-Artikel

Der Inder-Wahnsinn

Bollywood erobert Berlin: Indische Filme und Tänze begeistern besonders muslimische Einwanderer. Die Geschichten handeln oft vom Aufbegehren gegen Traditionen, sind aber familienfreundlich

„Es gibt viele Frauen, mit denen man sich identifizieren kann“, sagt eine Tanzlehrerin

Von ALKE WIERTH

Wenn das Pausenzeichen ertönt, laufen die Grundschülerinnen Gamze, Nursen, Elena und Laura schnell auf den Schulflur. Da wartet der CD-Player, und nun wird wieder getanzt: Bollywood! Elegant bewegen sich die Drittklässlerinnen – ganz so, wie sie es ihren Stars aus den Filmen abgeguckt haben: ein Augenplinkern, eine Drehung der Hand, ein schnelles Wirbeln über den Gang.

Auch die Texte der Lieder kennen die Mädchen auswendig – jedenfalls tun sie so. Denn Hindi, die Sprache der Bollywood-Filme, beherrscht natürlich keine von ihnen, auch wenn sie fast alle mindestens zwei Sprachen sprechen: Türkisch oder Arabisch, Russisch oder Vietnamesisch, Kurdisch oder Polnisch – und natürlich Deutsch.

Bollywood-Filme, vor allem deren Musik und Tänze, haben sich in Berlin zu einer Mode entwickelt, die Berlinerinnen – und auch Berliner – aller Herkunftsländer integriert. Die indischen Rührstücke, meist um die vier Stunden lang und aufwändig und prunkvoll inszeniert, erzählen romantische Liebesgeschichten – mit hohem Taschentuchverbrauchsfaktor.

Da wäre zum Beispiel der Film „Kabhi Khushi Kabhie Gham“ (deutscher Titel: „In guten wie in schweren Tagen“) mit Bollywood-Superstar Shah Rukh Khan in der Hauptrolle, der einer der Auslöser der Bollywood-Manie in Deutschland war: Ein junger Mann aus reicher Familie heiratet statt der Frau, die der Vater für ihn ausgesucht hat, das arme, aber entzückende Mädchen, das er wirklich liebt – die Tochter einer Dienstbotin. Das junge Paar wird daraufhin verstoßen, es folgt ein jahrelanges Zerwürfnis. Doch am Ende überzeugt die Mutter den Vater, dass sein Beharren auf der Tradition nur Schaden anrichtet. Die Familie ist wieder vereint.

Unter türkischen Zuwanderern und vielen anderen muslimischen Einwanderergruppen erfreuen sich die Bollywood-Filme bereits seit Jahren großer Beliebtheit. Die Filme seien eben sehr familienfreundlich, erklärt Laila Hashmi-Yilmaz, die Bollywood-Tanz unterrichtet: „Man muss nie weggucken.“ Selbst Küsse werden in den indischen Liebesfilmen nur angedeutet, Sex ist absolut tabu, und traditionelle Familienwerte wie Gehorsam und Achtung gegenüber den Eltern spielen eine wichtige Rolle.

Dabei erzählen die Filme oft gerade von Ausbrüchen aus der Tradition: Wenn wie in „Kabhi Khushi Kabhie Gham“ der Sohn sich dem Vater widersetzt und nicht die für ihn ausgewählte Frau heiratet, oder wenn wie in dem in der New Yorker Immigrantenszene spielenden Film „Indian Love Story“ die Schwiegertochter der Schwiegermutter die wenig schmeichelhafte Wahrheit über den verstorbenen Ehemann sagt. Doch am Ende ist die Welt immer wieder heil, die verkrachte Familie vereint. Bollywood heißt eben auch: Regelverstöße sind möglich, ohne die Tradition ganz aufzugeben.

Das mag für manches muslimische Mädchen die indischen Filme reizvoll machen. „Es gibt viele gute Frauenfiguren, mit denen man sich identifizieren kann“, sagt Laila Hashmi-Yilmaz. Die 24-jährige Berlinerin ist Tochter einer deutschen Mutter und eines pakistanischen Vaters. Sie ist mit Bollywood groß geworden: „Auch in Pakistan sind die Filme sehr beliebt“, erzählt die Tanzlehrerin. Und zwar gerade deshalb, weil sie der harten Lebensrealität der meisten Menschen dort nicht entsprächen, meint die junge Frau mit den langen dunklen Haaren, die oft nach Indien und Pakistan reist. „Viele Frauen dort haben keine Rechte.“ Die Bollywood-Filme, die dort Hindifilme genannt werden, entführten sie in eine Traumwelt: „Sie machen happyendsüchtig“, sagt Laila Hashmi-Yilmaz. Und erzählt, dass pakistanischen Mädchen, die nicht den von der Familie erwählten Mann heiraten wollen, heute gesagt würde: „Du hast wohl zu viele Hindi-Filme geguckt!“

In Berlin hat die Bollywood-Welle unterdessen längst breite Gesellschaftskreise erfasst. Die Fans feiern Bollywood-Partys, tragen Bollywood-Mode und – vor allem – tanzen Bollywood-Tänze. Ungefähr die Hälfte ihrer Schülerinnen seien Deutsche, erzählt Laila El-Jarad, Chefin der Tanzschule La Caminada in Kreuzberg. Die anderen kommen aus nahezu allen in Berlin vertretenen Einwanderergruppen. Seit gut einem Jahr bietet La Caminada Bollywood-Tanzkurse an, mittlerweile fast täglich. „Die Nachfrage ist explodiert“, sagt Chefin Laila El-Jarad.

Auch Laila Hashmi-Yilmaz unterrichtet hier. Sie hat den Boom mit angestoßen, als sie bei einer Vorführung der Tanzschule im vergangenen Jahr einen Bollywood-Tanz zeigte. „Danach haben alle nach Kursen gefragt“, erzählt Laila El-Jarad. Heute beschäftigt La Caminada, eigentlich berühmt für orientalischen Tanz, drei Lehrerinnen allein für die Bollywood-Kurse.

Laila Hashmi-Yilmaz übt bei Wochenend-Seminaren mit ihren Schülerinnen Originalchoreografien aus Bollywood-Filmen ein. Männliche Schüler unterrichtet sie nicht, obwohl die Nachfrage da sei, sagt Laila Hashmi-Yilmaz. Doch der Tanzstil sei anders, aggressiver, wilder – das müsse ein männlicher Lehrer unterrichten.

Ihre Schülerinnen sind zwischen sieben und fünfzig Jahre alt. Viele träfen sich auch außerhalb der Kurse, erzählt Laila Hashmi-Yilmaz: „Sie schauen gemeinsam Bollywood-Filme und kochen dabei indisches Essen.“ Manche würden ihre Wohnungen indisch dekorieren, ein kleines Mädchen hat ihr sogar erzählt, dass es die Wand seines Kinderzimmers mit einer indischen Fahne geschmückt habe.

Die Ausstattung für den Bollywood-Hype finden die Tanzschülerinnen unter anderem im Geschäft von Kamaljid Uttam. Der aus Neu-Delhi stammende Unternehmer bietet in seinem Laden Moti Mahal nicht nur unzählige Bollywood-Filme, sondern auch das notwendige Zubehör für Fans: prachtvolle Sari-Kostüme für Frauen und Mädchen, die zum Tanzen meist aus einem langen, weiten Rock, einem bauchfreien Oberteil und einem flatternden Schal bestehen. Dazu Sherwanis, die Festbekleidung für Männer: bestickte Schuhe mit leicht nach oben gebogener Spitze sowie tausende blinkender Armreifen aus buntem Glas, besetzt mit Glitzersteinen, die beim Tanzen klimpern.

1990 ist Kamaljid Uttam zum Studieren nach Deutschland gekommen. Geblieben ist er, erzählt Uttam, weil ihm die Stimmung hier so gut gefallen habe: „Und die Kälte!“ Zunächst hat er seine aus Indien importierten Produkte – Kleidung, Lebensmittel, Kosmetik und Kinofilme – im Internet angeboten. „Dann haben wir geguckt, wo wir die meisten Kunden haben, und da haben wir dann ein Geschäft aufgemacht“ – und das war Berlin.

Bei den indischen Liebesfilmen ist ein hoher Taschentuchverbrauch garantiert

Vor gut einem Jahr haben der Inder und seine deutsche Ehefrau Simone den Laden an der Potsdamer Straße eröffnet – auf 400 Quadratmetern. Demnächst will Geschäftsmann Uttam sich vergrößern: auf über 1.200 Quadratmeter. Eine Bollywood-Bar, Tanzkurse, sogar Hindi-Sprachkurse will der Mittdreißiger dann anbieten: Die Kunden fragen danach, sagt Uttam.

„Es gibt gerade einen richtigen Indien-Hype“, meint auch Sangeetha Sander, die ebenfalls Bollywood-Tanz unterrichtet. „Früher haben wir uns gar nicht getraut, in indischer Kleidung auf die Straße zu gehen“, erzählt die in Neukölln geborene Tochter indischer Einwanderer. Heute dagegen würden viele Menschen begeistert auf die schicken und farbenfrohen Saris reagieren.

Mit zwei Freundinnen hat Sangeetha Sander die indische Tanzgruppe Triveni gegründet. Sie tanzen nicht nur den modernen Bollywood-Stil, sondern auch klassische indische Tänze. Dass ausgerechnet der von klassischen Tänzern oft abschätzig belächelte Bollywood-Tanz so großen Erfolg hat, macht Sangeetha Sander nichts aus: „Die Leute fangen damit an, und dann werden sie neugierig auf die anderen Stile.“ Die sind allerdings erheblich schwerer zu lernen: Jede Handbewegung, jedes Heben der Augenbraue hat eine Bedeutung.

Auch die indische Botschaft hat den Bollywood-Trend erkannt, erzählt Sangeetha Sander: „Sie laden uns oft ein, wenn es in der Botschaft Veranstaltungen gibt. Dann tanzen wir alle möglichen Stile.“ Die Botschaft unterstützt auch Bollywood-Filmfestivals in Deutschland.

Im Moment hat die Tanzlehrerin Sander einen besonders schönen Auftrag: Sie unterrichtet Bollywood-Tanz an der Karlsgarten-Grundschule in Neukölln – der Schule, die sie als Kind selbst besucht hat. „Wir haben festgestellt, dass ganz viele aus unserer multikulturell gemischten Schülerschaft den Tanz und die Musik sehr mögen“, sagt Schulleiterin Brigitte Unger. Das hat sich die Schule zunutze gemacht: Die Bollywood-AG ist Teil eines Sprachförderprogramms für SchülerInnen, die Defizite in der deutschen Sprache haben. „Der Tanz und die Musik macht die Kinder lockerer“, erzählt Sangeetha Sander. Im Unterricht seien sie dann entspannter und könnten besser lernen. Bollywood integriert eben.

Einige von den unzähligen Internetseiten zum Thema Bollywood: www.planetbollywood.com (in englischer Sprache), www.molodezhnaja.ch (deutschsprachig), www.happyindia.de, www.bollywood-forum.de (mit Songtexten in deutscher Übersetzung), www.bollywood-dance.de (Laila Hashmi-Yilmaz’ Webseite), www.caminada.de (das Tanzstudio), www.moti-mahal.de (der Laden), www.triveni.de (die Tanzgruppe von Sangeetha Sander), www.indien-netzwerk.de (Partytermine und andere Veranstaltungen zum Thema Indien auch in Berlin)