piwik no script img

Archiv-Artikel

Tante Leahs Baum

TEPPICHKUNST Explosion der Farben und Formen: Eine Auswahl der opulenten Wall Carpets der israelischen Künstlerin Noa Eshkol wird in den Opel-Villen in Rüsselsheim gezeigt

Als ihr eigener Fundus aufgebraucht war, sammelte sie mit ihren Tänzerinnen die Abfallsäcke ein, die von den Tel Aviver Textilfabriken auf die Straße gestellt wurden

VON URSULA WÖLL

Wer die 50 riesigen, von Noa Eshkol gestalteten Wandteppiche aus Stoffresten in den Opel-Villen in Rüsselsheim bewundert, kann es kaum fassen: Erst diese, von Beate Kemfert kuratierte Ausstellung macht ein so großartiges Oeuvre außerhalb Israels bekannt. Die Verspätung geht allerdings auf das Konto der 2007 verstorbenen Künstlerin. Noa Eshkol suchte weder in ihrem ersten Leben als Tänzerin, Choreografin und Erfinderin einer Bewegungsnotation noch in ihrem zweiten, der textilen Kunst gewidmeten, öffentliche Anerkennung. Der Wechsel der fast 50-jährigen Bewegungskünstlerin ins Medium der bildenden Kunst geschah 1973 ziemlich abrupt. Die Legende überliefert ihn wörtlich: „Jetzt ist nicht die Zeit, zu tanzen“, soll sie ihrer kleinen Tanztruppe beschieden haben. Sie war schockiert über den Angriff ägyptischer und syrischer Soldaten am höchsten Feiertag Jom Kippur, zumal ihr einziger männlicher Tänzer eingezogen wurde. Aber der Krieg war wohl nur der Auslöser für ihre Neuorientierung.

Nach ihrer Tanzausbildung in England, unter anderem bei Rudolf von Laban, hatte sie in Israel mit dem Architekten Avraham Wachman die Eshkol-Wachman-Movement-Notation und einen eigenen minimalistischen Tanzstil entwickelt. Jahrelang arbeitete Eshkol mit der kleinen, ihr ergebenen Chamber Dance Group in ihrem Haus in Holon bei Tel Aviv, das sie mit einem Tanzstudio aufgestockt hatte. Wie puristisch die Ästhetik ihrer Choreografie war, kann man auf den in die Ausstellung integrierten Videos erkennen: Die Frauen bewegen sich langsam und fließend in einfachen schwarzen Trikots auf einer hellen Bühne, Musik fehlt ganz und wird durch ein taktgebendes Metronom ersetzt. Und dann diese Explosion von Farben und Formen auf ihren Wandteppichen!

In dem diametral veränderten Stil liegt wohl der tiefere Grund für Noa Eshkols künstlerischen Neubeginn. Sie suchte nicht nur eine neue Herausforderung, sondern war wohl des immer wiederholten puristischen Reduzierens überdrüssig. Wie Noa Eshkol ausgerechnet auf Wandteppiche kam, ist nicht überliefert. Hat sie zufällig etwas über die Scherenschnitte von Matisse in ihrer großen Bibliothek gefunden? Seine „Komposition auf grünem Grund“ zeigt Formen, die entfernt dem seesternartigen Stoffdruck auf ihrem ersten Wall Carpet von 1973 ähneln. Aber vielleicht war da auch einfach nur ein Rock mit diesem Muster, den sie auftrennte und in die Komposition integrierte?

Alle ihre textilen Arbeiten sind nämlich aus Stoffresten komponiert, verwendet in genau der Form, in der sie in Noa Eshkols Hände gerieten. Eine Schere benutzte sie niemals. Als ihr eigener Fundus und der ihrer Bekannten aufgebraucht war, sammelte sie mit ihren Tänzerinnen die Abfallsäcke ein, die von den Tel Aviver Textilfabriken abends auf die Straße gestellt wurden. So sind viele der beim Zuschnitt angefallenen Reste Negativformen in den denkbar unterschiedlichsten Farben und Mustern: uni, gestreift, geblümt, kariert, in Spitzenoptik. Sogar runde Schirmstoffe und eine arabische Kufija finden Verwendung. Eigentlich sind die Wall Carpets weniger Collagen als Assemblagen, da ihnen die diversen Strukturen der Stoffe etwas Dreidimensionales verleihen. Gröbere oder samtartige Gewebe fangen das Licht besonders intensiv ein und geben den Farben Tiefe. In den Opel-Villen mit ihren großen Fenstern auf die Grünanlagen des Mains kommen Strukturen und Farben zur vollen Geltung, erhalten die Wall Carpets eine überwältigende Präsenz.

Das am Eingang gehängte Werk „Garten der Finzi Contini“ ist eine farbintensive Assoziation zu einem ihrer Lieblingsromane von Giorgio Bassani. Doch der erste Teppich von 1973 wird getoppt von den vielen folgenden, immer üppiger werdenden. Für Eshkol wurde das Spiel mit dem Vorgefundenen zur Obsession, sie lernte immer raffinierter mit den Fetzen umzugehen, ließ Überschneidungen oder Kreisformen zu und passte die farbliche Grundstimmung der jeweiligen Thematik an. Ihre Kompositionen sind zwar stark abstrahiert, aber mit etwas Fantasie entzifferbar.

Stilisierte Pflanzen

So ist der über drei Meter hohe „Afrikanischer Tanz“ von 1998 dunkelbraun grundiert. Fast symmetrisch wirkt die Komposition „Rachels Grabstätte“, eines von etlichen Themen aus der jüdischen Geschichte, mit der sich die nichtreligiöse Künstlerin identifizierte. Meist aber beziehen sich die Inhalte auf Erlebtes oder Gesehenes, oft sind es stilisierte Pflanzen oder Vögel, die Noa Eshkol in ihrem Garten oder bei Ausflügen auffielen. Die jeweiligen Titel helfen beim Enträtseln der komplexen Stoffbilder. Da ist etwa „Tante Leahs Baum“ von 1980, ein Wandteppich, der demonstriert, wie viel Emotionen die Künstlerin nun zulässt. Die Liebe zu dieser Tante materialisiert sich nicht nur in dem nach oben strebenden Baum, sondern auch in der Wahl besonders kostbarer, brokat- oder seidenähnlicher Reste. Auch hier bilden nicht nur die unterschiedlichsten Stoffmuster, sondern der Kontrast von spitzen und runden Formen der Reste eine ästhetische Einheit.

Heute ist ihr Haus in Holon Sitz der Noa Eshkol Foundation und beherbergt Archive ihrer Tanzkreationen sowie ihre 500 Wall Carpets. Beate Kemfert von den Opel-Villen hat den darin gehorteten textilen Schatz nun endlich gehoben und als weiteren Zweig am Baum der Weltkunst öffentlich präsentiert.

■  Bis 23. März. Opel-Villen Rüsselsheim, Katalog (Hatje Cantz) 24,80 Euro