: Stilvoller Abschied mit Föllakzoid
POPFESTIVALS Von Musikern – für Musiker: All Tomorrow’s Parties, das letzte Mal an der Südküste Englands
Die Sache mit dem Dresscode, sie könnte eigentlich vom verstorbenen Lou Reed stammen: „And what costume shall the poor girl wear / To all tomorrow’s parties / A hand-me-down dress from who knows where / To all tomorrow’s parties“.
Da steht sie also am dritten Festivaltag, eine wackere, vom Bier schwankende Generation X in ihren zerzausten Hochzeitskleidern. Genau wie es die Festivalmacher ihnen empfohlen hatten. Die jüngere Schickeria trägt glitzernde Outfits, als hätten Arcade Fire zum Tanz gebeten und nicht die weniger prätentiösen schottischen Facharbeiter von Mogwai, deren tösender Post-Rock sich in dieser Sonntagnacht zum Abschluss des Festivals über etwa 5.000 Köpfe in der scheußlichen Eventhalle von „Pontins“ ergießt. An der englischen Südküste ist am vergangenen Wochenende ein Stück Festivalgeschichte zu Ende gegangen. „All Tomorrow’s Parties“ – benannt nach Lou Reed’s Song für das epochale, selbstbetitelte Album von The Velvet Underground – werden nach 14 Jahren nicht mehr weitergeführt. „Das Konzept hat sich totgelaufen“, sagt Barry Hogan vom Veranstalter ATP Concerts.
Das ist höflich formuliert, denn die Strahlkraft der Marke, die eine Londoner Konzertagentur und ein Label umfasst, ist ungebrochen: Tatsächlich genügt einzig das Holiday Camp „Pontins“ unweit der Dünen von Camber Sands, zwei Autostunden südlich von London, nicht mehr den Ansprüchen eines Publikums im gehobenen Festivalalter – der selbstzerstörerischen Lust des Rock ’n’ Roll zum Trotz.
Hatten in den siebziger Jahren noch bis zu 1,5 Millionen Engländer ihren Pauschalurlaub in den Ferienanlagen am Meer verbracht, setzte mit der Expansion des Flugtourismus ein langsames Sterben der Camps ein. Heute ist „Pontins“ mit seinen Wohnbaracken und den hoffnungslos veralteten Freizeitstätten ein trostloser Ort.
Mogwai war die erste Band, die im Jahr 2000 das Musikprogramm eines gesamten Wochenendes kuratieren durfte – für ein Festival jenseits von Glastonbury damals ein interessanter Ansatz losgelöst von den üblichen Branchenmechanismen, der später gern halbseiden kopiert werden sollte. „Sie haben die Festival-Landschaft komplett verändert“, sagt Steve Albini, der mit seiner Noiserock-Band Shellac die Zuhörer am Freitag niedertrampeln sollte.
Streitfragen für den Pub
Als Retromania-Event war das ATP nie auf der Jagd nach den großen Namen. Mehr noch als die Alben der Gegenwart zählten stets das klassische Werk und der archäologische Stellenwert einer Band für die Konstitution eines amerikanischen und britischen Gitarren-Undergrounds der frühen Siebziger bis späten Neunziger Jahre. Deshalb wurde etwa der Düsseldorfer Krautrock-Pionier Michael Rother regelmäßig eingeladen, um wie an diesem Sonntag die elliptischen Songs von Neu! und Harmonia durch die Halle zu beschleunigen.
Mit Slint und Loop reaktivierten sich zwei der Headliner sogar eigens für das letzte ATP-Festival. Slint aus Louisville gelten seit ihrem 1991 bei Touch & Go erschienen Album „Spiderland“ als Begründer einer besonders formalanarchischen und passiv-aggressiven Form von Post-Rock. Ihr Auftritt ist, darauf wird der 35-jährige Schwede Johann später beim Rauchen pochen, in seiner Hyperpräzision für ihn und seine Gitarre unnachahmbar.
Mit der Streitfrage, ob nun Spaceman 3 oder doch Loop im Angesicht von The Stooges, Can und Acid den englischen Psychedelic-Rock der späten achtziger Jahre neu erfunden haben, könnte man im Pub von „Pontins“ abendfüllend streiten. Loop um Gitarrist Robert Hampson jedenfalls schaffen es live, den Urgeist dieser Zeit wiederzubeleben.
Es gibt noch mehr zu entdecken: den Unterwelt-Punk von Dirty Beaches, die kraftvollen Auftritte von The Pop Group und 23 Skidoo, das unfassbar gute Konzert der chilenischen Krautrock-Band Föllakzoid.
Vermissen muss man das nicht. Denn „All Tomorrow’s Parties“ sind an diesem Wochenende nur halb gestorben. Es existieren von dem Festival Ableger in Melbourne, Tokio, Island. Bald vielleicht in Polen und Südamerika. Nur die Briten haben nun definitiv keine Ausrede mehr, in ein Holiday Camp zu fahren.
CHRISTOPH DORNER