„Die Kinder haben provoziert“

GENERATIONENGESPRÄCH Ulrike Heider, Helmut Höge und Jana Petersen über die sexuelle Befreiung, das Streicheln von Kleinkindern, über Verklemmungen und Missbrauch

■ Jahrgang 1947, war in den Siebzigern Teil der Frankfurter Sponti- und Hausbesetzerszene. Heute lebt die Schriftstellerin und Journalistin in New York und Berlin. Ihr neues Buch „Vögeln ist schön. Die Sexrevolte von 1968 und was von ihr bleibt“ erscheint im März 2014 im Rotbuch Verlag.

INTERVIEW NINA APIN
UND HEIDE OESTREICH

taz: Frau Heider, wie haben Sie ganz persönlich von der sexuellen Revolution profitiert?

Ulrike Heider: Ich komme aus liberalen Verhältnissen. Meine Eltern sympathisierten mit der Friedensbewegung. Sie kannten Schwule und auch Künstler, die in „wilder Ehe“ lebten. Ich durfte studieren. Trotzdem erwartete meine Mutter von mir die Heirat mit einem wohlhabenden Mann. Als sie erfuhr, dass ich mit 21 Jahren die Unschuld verloren hatte, nannte sie mich ein Flittchen. Da wurde mir klar, wie heuchlerisch die bürgerliche Moral war: Ich sollte eine „gute Partie“ machen, das heißt Ehe und Sex gegen Geld. Das ist Prostitution. Aber wenn ich mit einem armen Studenten zu meinem eigenen Spaß schlafe, dann bin ich eine Hure.

Waren Sie da schon sexuell befreit?

Nein, mein Freund war ein iranischer Anti-Schah-Aktivist. Wir waren verliebt und hatten gemeinsame Interessen, aber im Bett war es eine Quälerei. Er war muslimisch gehemmt, ich protestantisch, und wir wussten beide wenig über Sexualität. Mein großes Glück war damals der Ausbruch der Studentenrevolte. Da redete man über alles. Eine Genossin vom Sozialistischen Deutschen Studentenbund gab mir eine gründliche Sexualaufklärung und den Rat, Erfahrungen zu sammeln. Ich experimentierte mit der Promiskuität, lernte viel und konnte meine schlimmsten Hemmungen überwinden.

Herr Höge, Sie sind Jahrgang 1947 wie Frau Heider. Wie haben Sie den Aufbruch empfunden?

Helmut Höge: Meine sexuelle Befreiung hatte ich erlebt, noch bevor die Studentenrevolte losging. In den Kreisen, in denen ich mich in den frühen 60ern rumtrieb, nahmen die Frauen alle die Pille. Damals entstanden die ersten Discos, mit Gelegenheiten zum Sex im Wald oder im Haus. Rückblickend war das alles recht konventionell und patriarchalisch. Das änderte sich, als ich nach Berlin zog: Die Frauen aus den Frauenkommunen haben mich eingeschüchtert. Sie trugen Lederjacken, haben Lebensmittel grundsätzlich geklaut, schnappten sich irgendwelche Lehrlinge, um mit denen zu schlafen. Das war ein großer Bruch in meinem Rollenverständnis, ich hatte erst mal zu tun, auf Augenhöhe zu denen zu kommen.

Jana Petersen: Ich bin ein Kind der sexuellen Befreiung. Mein Vater hat 68 angefangen zu studieren und bei politischen Aktionen mitgemischt. Meine Eltern waren nicht Teil der 68er Bewegung, aber sie wollten es mit ihrer Familie schöner haben als in der eigenen Kindheit. Bei ihnen zu Hause gab es noch den Nazi-Erziehungsratgeber von Johanna Haarer. Sie wollten deshalb, dass wir Kinder in Freiheit aufwachsen. Ich erinnere mich, dass ich mich als Kind gern selbst befriedigte. Ich wusste als Dreijährige, wie Kinder entstehen, zu Hause liefen alle nackt rum – alles kein Geheimnis. Ich hatte auch die Aufklärungsbücher meiner Eltern gelesen. Mit 15 habe ich mit meinem ersten Freund geschlafen. Das habe ich meinem Vater erzählt, der mir damals sehr nah war. Er sagte, dass es immer toller wird mit der Zeit.

Heider: Mit dem Vater über Sex zu reden, das wäre für mich utopisch gewesen! Ein Beweis dafür, dass sich was geändert hat.

Wie waren die Verhältnisse vor 68, wovon befreite man sich konkret?

Heider: Vor 68 war Sexualität etwas, worüber man nicht sprach, dessen Äußerungen man sich schämte und das man vor Kindern und Jugendlichen zu verbergen versucht. Man glaubte damals, Kinder hätten vor der Pubertät keinerlei Sexualität und frühzeitiges Wissen darüber würde sie verderben. Eine Ideologie, die heute leider wiederkehrt. Das Verheimlichen hatte zur Folge, dass die Kinder jahrelang darüber grübelten, woher die Babys kommen. Jugendliche hatten nur eine vage Vorstellung vom Geschlechtsverkehr. Beim ersten Sex sah ich zum ersten Mal einen erigierten Penis. Ich dachte, das sei eine krankhafte Schwellung und man müsste den Arzt holen.

Innerhalb weniger Jahre hatte sich die totale Verklemmtheit gewandelt – zu einer Atmosphäre, in der auch Sex mit Kindern als frei galt. Schoss man im Freiheitsdrang über das Ziel hinaus?

Höge: Man muss sich in die Zeit versetzen: Man hatte sich gerade vom kirchlichen Sextabu befreit und nichts als Sexualität im Kopf: Man diskutierte in Seminaren und Arbeitsgruppen über Sex, gründete Kommunen. Ich kannte Frauen, die arbeiteten in Peepshows. Diese sexualisierte Atmosphäre griff natürlich auch auf die Kinder über. Ich habe den Steglitzer Kinderladen mitgegründet. Und dort haben mich die Kinder mit ihrer bescheuerten Sexualität dauernd in die Enge getrieben: Sie fassten mir an den Schwanz, zogen sich aus …

Dann konnte es leicht zu Szenen kommen, die Daniel Cohn-Bendit nun immer zur Last gelegt werden: Erwachsene und Kinder streicheln sich gegenseitig die Genitalien?

Höge: Ich habe jahrelang mit Cohn-Bendit zusammengearbeitet und ihn immer als verklemmt erlebt, wie mich selbst übrigens auch. Er hat die Situation in seinem Buch umgedreht, weil er angeben wollte, wie befreit er war. Das fiel ihm später auf die Füße. Nun ja. Aber ich finde diese ganze Debatte um Pädophilie in den 70ern und 80ern blödsinnig.

Heider: Freuds Lehre von der kindlichen Sexualität war ja nach der Nazizeit gerade erst wieder rehabilitiert worden. Kinderladengründer und Eltern bemühten sich, alle Äußerungen kindlicher Sexualität zu akzeptieren. Man erlaubte Masturbation und Doktorspiele. Und wenn Kinder dem Cohn-Bendit an den Schwanz gegriffen haben, hat er ihnen nicht auf die Finger gehauen. Später hat er gesagt, er hätte das nur erfunden. Ich kann mir aber vorstellen, dass es so passiert ist. Das fände ich nicht schlimm. Und wenn er ein Kind auch unter der Gürtellinie gestreichelt hat, finde ich auch das nicht schlimm. Das hat nichts mit Pädophilie zu tun.

Es gab aber Forderungen der Pädophilenbewegung nach Legalisierung von sexuellen Handlungen mit Kindern. In der taz und anderen Medien übernahm man diese vollständig …

Höge: Das war eine Randerscheinung. Jede Bewegung bekommt irgendwelche Auswüchse. Ich habe als tazler diese ganzen Pädo-Geschichten überhaupt nicht zur Kenntnis genommen. Sicher: Die Indianerkommune besetzte uns und drückte ihre Forderungen nach „Kinderrechten“ wie freiem Sex und Schuleschwänzen ins Blatt. Aber das Thema war unwichtig.

Aber ist es nicht merkwürdig, dass sich damals niemand über die Verherrlichung von sexuellem Missbrauch aufregte?

Heider: Meiner Meinung nach gab und gibt es da ein Missverständnis, das durch die Verwechslung von Päderastie mit Pädophilie entstand. Pädophilie ist die ausschließliche sexuelle Fixierung erwachsener Männer oder Frauen auf vorpubertäre Kinder. Päderastie ist die ideelle oder auch sexuelle Beziehung eines erwachsenen Mannes zu einem nachpubertären Knaben. Das war im 19. und frühen 20. Jahrhundert die gängige Form von Schwulsein. Bis in die 70er Jahre glaubten noch viele, dass ein Schwuler ein Mann ist, der auf Knaben steht. Als es die Forderungen nach Streichung des Paragrafen 176 gab …

also des Verbots sexueller Handlungen mit unter 14-Jährigen …

… haben die meisten sich dafür ausgesprochen, weil sie dachten, sie tun den Schwulen einen Gefallen. Die Gleichsetzung von Päderastie und Pädophilie aber führt heute sogar zur Nachverurteilung von ersten bekennenden Homosexuellen als Sexualstraftätern.

■ Jahrgang 1978, kommt aus Hamburg. Sie wuchs in einem liberalen Elternhaus auf, wirkte als Schauspielerin in diversen Filmen und TV-Produktionen mit. Ihre journalistische Karriere begann sie bei Vanity Fair, seit 2010 ist sie bei der taz. Die stellvertretende sonntaz-Leiterin ist derzeit in Elternzeit.

Offenbar gingen nicht alle davon aus, dass man hier nur Schwule befreit. Wissenschaftler debattierten in den 70er Jahren darüber, ob „gewaltloser“ Sex mit Erwachsenen Kindern schadet. Man wusste also schon, dass es auch um Sex mit unter 14-Jährigen geht.

Heider: Das stimmt. Man dachte damals anders. Der Sexualforscher Alfred Kinsey zum Beispiel meinte, dass ein Kind von einer gewaltfreien sexuellen Annäherung durch einen Erwachsenen nicht verstört wird. Erst die hysterischen Reaktionen von Eltern, Polizisten und Richtern auf so einen Fall schadeten Kindern im Nachhinein. Fast alle Sexualwissenschaftler waren damals ähnlicher Meinung. Deshalb finde ich es idiotisch, wenn Leute, die wegen ihrer Meinung von vor 30 Jahren der Aufforderung zum Missbrauch bezichtigt werden, jetzt mit Zwecklügen und Rationalisierungen reagieren. Wenn die Diskussion nicht so unhistorisch und moralistisch geführt würde, könnte Cohn-Bendit sagen: Die haben sich an mir zu schaffen gemacht, und ich habe es ihnen nicht verboten. Jürgen Trittin könnte sagen: Ich war presserechtlich verantwortlich für ein Arbeitspapier, das die Aufhebung von Schutzaltersgrenzen forderte, aber das hätte jeder andere sein können. Volker Beck, der in einem Sammelband zum Thema Pädophilie einen Artikel geschrieben hat, könnte sagen: Ja, ich habe das geschrieben, weil ich damals so dachte. Ich habe meine Meinung inzwischen geändert.

Petersen: Ich sehe das alles ein bisschen anders. Natürlich war es eine andere Zeit. Das verstehe ich. Aber wenn Sie, Frau Heider, jetzt sagen, dass Sie es immer noch in Ordnung finden, wenn ein Kind von oben bis unten gestreichelt wird, dann frage ich mich: Was für eine Art von Streicheln soll das sein? Es ist ja ein Riesenunterschied, ob man damit die Verklemmungen der Nazizeit überwinden will oder ob es ein Streicheln ist, das den Erwachsenen sexuell erregt. Natürlich streichle ich auch meine Kinder. Mein Sohn im Babyalter wird jeden Tag mit Ölivenöl massiert, natürlich auch am Po. Aber wenn meine Jungs von Fremden gestreichelt würden, wäre bei mir eine Grenze überschritten. Ich habe manchmal den Eindruck, dass damals eine Ideologie das Gefühl dafür, was richtig und falsch ist, überrollt hat. Gerade erfuhr ich aus dem Bekanntenkreis von einer Frau, die in den 70ern von ihrem linken Vater sexuell missbraucht worden ist. Aus theoretischen Überlegungen heraus, dass er seinem Kind was Gutes tut. Die Frau leidet bis heute darunter. Diese Seite gibt es eben auch.

Höge: Ich glaube nicht, dass wir da was verharmlosen. Wir versuche zu erklären, wie das zustande kam. In den 70ern fingen viele Gruppen an, sich zu emanzipieren: Die Frauen mit der Frauenpower. Die Schwarzen: Black Power. Alle hatten ihr Coming-out, die Schwulen, Prostituierte, Knackis, Irre, die schlimmsten Perversen offenbarten sich. Diesen Trend nannte man „Patchwork der Minderheiten“. Es wurde erst mal begrüßt, dass alle öffentlich heraustraten. Dann folgte eine Diskussion. Die Pädophiliesache war, kaum dass sie hochkam, relativ schnell wieder weg, mangels Substanz. Auch in der taz.

Offene Diskussion ist eine Sache, aber wenn solche Fantasien umgesetzt werden, zum Beispiel an Kindern wie an Jana Petersens Bekannter, dann gibt es ja auch Opfer.

Heider: Dass unter Linken Missbrauch vorkommt, kann sein. Das gibt es in der ganzen Gesellschaft. Aber dass Sex mit Erwachsenen gut für Kinder sei, hätte auch ein Rechter behaupten können. Ich kenne keinen Linken, der so etwas vertreten hätte.

Petersen: Ich würde gerne auf das zurückkommen, was Sie vorhin sagten, das Streicheln am ganzen Körper. Würden Sie mir das noch mal erklären? Es ist ja unbestritten, dass Kinder eine eigene Erotik haben. Die darf aber nicht missbraucht werden von einem Erwachsenen, da ein Machtgefälle herrscht. Wenn ich meine Kinder berühre, hat das mit Sexualität nichts zu tun.

Heider: Solche Berührungen waren nicht sexuell gemeint. Ein Vorbild für die antiautoritären Kinderläden war ja das Kinderheim, das die Psychoanalytikerin Vera Schmidt 1921 in Russland für Drei- bis Sechsjährige eröffnete. Es gab keine Strafen, Äußerungen des Sexuallebens wurden weder unterbunden noch abgelehnt. Nur: „Heiße Küsse und Umarmungen“ seitens der Erzieher, „die das Kind erregen oder sein Selbstgefühl erniedrigen“ könnten, waren untersagt.

Im Buch der Kommune 2 gibt es etwa eine Textstelle, die heute sehr befremdet …

Heider: Es gibt zwei Stellen. Eins: Eike streichelt seinen Sohn Nessim überall, auch am Penis. Das Mädchen Grischa sagt, es will auch einen Penis haben. Eike meint, sie könne Nessims haben. Sie streichelt Nessims Penis, der als Gegenleistung verlangt, ihre Vagina anzufassen. Zwei: Eberhard bringt Grischa ins Bett. Sie bittet ihn, bei ihr zu schlafen. Er legt sich angezogen neben sie, hofft, dass sie einschläft. Sie aber streichelt ihn, zieht ihm die Unterhose aus, spielt mit seinem Penis und will ihn bei sich reinstecken. Er sagt, dazu sei er viel zu groß. Schließlich streichelt er sie an der Vagina, was sie widerstrebend zulässt. Endlich sieht sie ein, dass sein Penis zu groß ist. Diese Szene wird im Buch als gelungener Lernprozess interpretiert.

Und mit Nacktfotos der damals Dreijährigen garniert. Es fällt schwer, darin keine Übergriffigkeit zu sehen …

Heider: Der Mann Eberhard bemüht sich meiner Meinung nach, den Kindern als Gleicher zu begegnen und regrediert dabei auf das Alter des kleinen Nessim. Er hat Grischa nicht angefasst, um daraus Lust für sich zu gewinnen. Ich halte seine Reaktion heute für falsch, glaube aber auch nicht, dass Grischa großen Schaden daran genommen hat.

Petersen: Ich habe meinen Vater vor dem Gespräch gefragt, wie das bei uns damals war, wir waren ja auch häufig nackt. Aber mein Vater sagte, dass sie eben keine Fans der antiautoritären Erziehung waren: Sie betrachteten es als ihre Aufgabe, als Erwachsene die Grenzen zu ziehen. Wenn wir ihre Geschlechtsteile untersuchen wollten, sagten sie: Das wollen wir nicht. Ich glaube, das ist der Punkt. Dass Erwachsene in der Lage sind, die eigenen Grenzen auszusprechen, damit kein Schaden angerichtet wird. Das ist ein Lernprozess: Dass ich heute sage: Ich will das nicht.

Heider: Warum dürfen die Kinder Genitalien denn nicht untersuchen, wenn sie sie doch mal sehen wollen?

Petersen: Sehen, ja. Aber aus meiner Sicht ist es eine sexuelle Handlung, wenn meine Söhne an meiner Vagina rumspielen. Das will ich persönlich nicht. Kann sein, dass meine sexuelle Befreiung irgendwo stehen geblieben ist. Kann aber auch sein, dass es eine normale Schranke zwischen Eltern und Kindern gibt. Die in der Zeit damals aus einem theoretischen Hintergrund heraus nicht beachtet wurde.

Feministinnen haben diese Fehlinterpretation der kindlichen Sexualität früh kritisiert. Vielleicht konnten sie so klar sehen, weil die sexuelle Revolution Frauen auch eher überrollt hat?

■ Jahrgang 1947, stammt aus Bremen und zog 1969 als Deserteur nach Westberlin, wo er unter anderem in der Wannseekommune lebte, Sozialwissenschaften studierte und sich an Zeitungen wie Hundert Blumen beteiligte. Der Schriftsteller und Forscher ist taz-Autor und „Aushilfshausmeister“.

Heider: Ich habe mich in der ganzen 68er Zeit nie von einem Mann unter Druck gesetzt gefühlt. Nie hat einer etwas gesagt wie: „Wenn du jetzt nicht mit mir schläfst, bist du nicht emanzipiert.“ Viele Frauen, darunter ich, begriffen das Recht auf freie Liebe als ein Frauenrecht. In den 70ern kam eine Stimmung auf, in der Feministinnen die Sexrevolte als reine Männerangelegenheit abgetan haben. Es hieß, nur die Männer hätten profitiert. Sie hätten Frauen zum Sex gezwungen. Ich habe das so nicht erlebt.

Wie entstand diese Umdeutung der Feministinnen?

Heider: Es gab eine latente Sexualfeindlichkeit in Teilen der Frauenbewegung. Wenn man heute den feministischen Bestseller „Weiblichkeitswahn“ von Betty Friedan noch mal liest – unglaublich, wie konservativ in Bezug auf Sexualität das ist …

Was bleibt eigentlich von der Revolte? Die Sexindustrie?

Heider: Die sexuelle Revolution, die als Teil einer sozialen Revolution gedacht war, hat ebenso wenig stattgefunden wie die Sozialrevolution. Aber die, die vor allem ökonomische Interessen an der sexuellen Befreiung im Sinne von Marktfreiheit hatten, haben am meisten davon profitiert. Werber, Zeitschriftenmacher, Pornografen. Die Vermarktung von Sexualität ist in einem Maße fortgeschritten, wie man sich das damals nie hätte vorstellen können.

Petersen: Ich empfinde das auch so und habe mir dazu oft Gedanken gemacht. Über die Unsichtbarkeit von persönlichem, wirklichem Sexuellem. Wir sind umgeben von Brüsten und so weiter. Gleichzeitig wird wenig darüber gesprochen, wie gelebte Sexualität in Partnerschaften aussieht. Was mir immer selbstverständlich war, geht den Jüngeren gerade wieder verloren.

Höge: Das liegt am bürgerlichen Ideal des schönen Körpers. Anders als du empfinden sich die meisten wohl als zu dick oder zu dünn. Aber dass es keine befreite Sexualität im Spätkapitalismus gibt, würde ich so nicht sagen. Sie wird nur allzu leicht eingefangen: Aus dem Internet wird NSA, aus Bioläden werden Biosupermärkte, aus der sexuellen Revolution wird die Pornoindustrie.

Petersen: Da sieht man, wo die sexuelle Revolution gescheitert ist: überall Sex, nur nicht in den Beziehungen. Viele Paare trennen sich, weil sie sexuell nicht zurechtkommen, oder Männer gehen dann in den Puff, statt daran zu arbeiten. Dabei kann man sich auch in der Partnerschaft sexuell befreien, nicht einzeln, sondern als Paar gemeinsam. Ich hoffe, dass das die nächste Revolte wird.