Die Kunst der Übertragung

LYRIK Familienalben, Alphabete und Lockenwickler: das elfte Berliner Poesiefestival

Dass Lyrik heutzutage einen solch schweren Stand hat, hängt damit zusammen, dass der Begriff Lyrik eine gewisse Weltferne suggeriert. Sobald man das Ganze umetikettiert und als Slam Poetry, Spoken Word oder Rap verkauft, sofort handelt es sich um etwas Zeitgemäßes.

Das Poesiefestival Berlin, das in diesem Jahr zum elften Mal stattfindet, beherrscht diese Kunst der Umetikettierung nahezu meisterlich, und es geht darin sogar einen Schritt weiter. Denn schon vor Jahren hat Festivalleiter Thomas Wohlfahrt erkannt, dass der einzig Erfolg versprechende Weg, Lyrik für ein Nicht-Fachpublikum interessant zu machen, im Fusionieren, Mischen, Remixen, kurz: im Übergang von einem Aggregatzustand in einen anderen liegt. Dies führt zu der mitunter leicht absurden Situation, dass man vor lauter Video-, Tanz- und Musikperformances kaum mehr Gedichtlesungen in Reinform erleben kann.

Aus der Grundidee einer Interaktion der Gattungen sind mit der Zeit verschiedene, regelmäßig stattfindende Reihen hervorgegangen. Etwa die „e.poesie“, die sich den Verschränkungen von Sprache, Klang und Musik widmet. Basierend auf vier Gedichten von Monika Rinck gibt es eine teils auskomponierte, teils zu improvisierende Komposition des argentinischen Medienkünstlers Mario Verandi zu hören, während der Stimmband-Virtuose David Moss in seiner Performance Texte von Kafka und Melville zu völlig neuem Sinn- und Unsinn reorganisiert.

Ins Auge fallen die vielen Ausstellungen, von denen sich die meisten mehr am diesjährigen Festivalschwerpunkt – dem Mittelmeerraum – orientieren, als dass sie tatsächlich etwas mit Lyrik zu tun hätten. So gibt es in der Akademie der Künste Fotografien des Italieners Luca Gambi zu sehen, die sich mit den Lebensbedingungen von Einwanderern in Italien beschäftigen. Neben eigenen Bildern zeigt Gambi Fotos aus dem „Familienalbum“ der Einwanderer, um so Anknüpfungspunkte zwischen Altem und Neuem zu schaffen. Ebenfalls leitmotivisch ans Festivalthema angebunden sind die „Envers singuliers“ von Marianne Cresson, die mit ihren Skulpturen aus Fundstücken – Lockenwicklern, Knöpfen, Federn – über die Einwandererstadt Marseille reflektiert.

Interessant wird sicherlich eine Neuinterpretation des Gedichts „Alphabet“ der im vergangenen Jahr verstorbenen dänischen Dichterin Inger Christensen: „die tauben gibt es; die träumer, die puppen / die töter gibt es; die tauben, die tauben; / dunst, dioxin und die tage; die tage / gibt es; die tage den tod; und die gedichte / gibt es; die gedichte, die tage, den tod“, heißt es darin. Es wird spannend sein zu beobachten, ob es der Klang- und Rauminszenierung von Irene Mattioli, Christiane Hommelsheim und Diana Kitzinski tatsächlich gelingen wird, Christensens Gedicht neue Aspekte abzugewinnen. ANDREAS RESCH

■ Poesiefestival Berlin 2010. Vom 4.–12. Juni. Programm unter: www.literaturwerkstatt.org