: Die Knigge-Frage
Darf man Leuten sagen, dass sie blass aussehen?
Dieser Text ist meiner Familie gewidmet. Vielleicht schaffe ich es so, einen unserer Konflikte aufzuarbeiten. Ausgangspunkt war immer der frühe Morgen, kurz nachdem wir uns aus dem Bett geschält hatten und unten im Esszimmer aufeinandertrafen. „Morgen.“ – „Morgen.“ – „Morgen.“ – „Morgen.“ – „Morgen.“ Ein typisches 7-Uhr-Frühstücksgespräch in meiner Familie.
Wir sind Langschläfer. Gespräche am frühen Morgen haben bei uns die Brisanz der Atomverhandlungen zwischen der 5+1-Gruppe der Vereinten Nationen und dem Iran. Jeder ist gereizt, alles ist möglich, das Pendel kann in beide Richtungen ausschlagen. Selbst erfahrene Diplomaten würden keine Einschätzung wagen.
In einem Anflug kindlicher Fürsorge fragte ich meine Mutter: „Du siehst blass aus, geht’s dir nicht gut?“ Es war nett gemeint. Ich dachte, dass sich da vielleicht eine Erkältung anbahnt, die sie selbst noch nicht spürt.
Ich wollte aufmerksam sein, ein guter Sohn. Meine Geschwister folgten meinem Beispiel. Du siehst krank aus, schlapp, müde, traurig, gestresst. Manchmal sagten wir solche Sätze auch zu meinem Vater. Der hatte damit kein Problem. Bei meiner Mutter war das anders.
Sie ließ die diplomatischen Morgenverhandlungen nicht mit einem lauten Knall platzen. Das wäre für mich erträglicher gewesen, eine klare Ansage. Doch es war schlimmer. Mal reagierte sie gar nicht, mal stieß sie nur ein abgehacktes „Danke auch“ aus. Sie war gekränkt. Vielleicht verstand sie die Aufmerksamkeit ihrer Kinder als Angriff auf ihre Stärke. Für mich waren diese Frühstückssituationen Worst-Case-Szenarien.
Es gab zwei Gefühlslagen, die auszulösen ich als Kind unerträglich fand: Enttäuschung und Kränkung. Die Feststellung „Du siehst blass aus“ traf genau auf die Schnittstelle dieser zwei Emotionen: Sie kränkte und enttäuschte meine Mutter zugleich. Beging jemand den Blassheits-Tabubruch am Morgen, war der Tag gelaufen. Meine Erfahrung ist, dass Mütter Meisterinnen des schlechten Gewissens sind. Es kam mehrmals vor, dass ich mit schlechtem Gewissen, grübelnd, am Rhein durch den Nebel zur Schule gefahren bin und über Blässe nachgedacht habe.
Es hat Jahre gedauert, aber am Ende habe ich den Konflikt gelöst. Ein Meilenstein des humanitären Familienrechts. Als Elder Statesman der Frühstücksdiplomatie will ich anderen Familien einige einfache Regeln mit auf den Weg geben: Jemandem zu sagen, er sehe krank aus, sollte in sensiblen Familien auf bestimmte Zeitkorridore beschränkt werden. Geeignet sind beispielsweise lange Spaziergänge durch den Wald, die sich historisch als erfolgversprechender Kontext diplomatischer Verhandlungen erwiesen haben.
Außerhalb der Familie gilt generell: Je enger die Beziehung, desto eher darf man den Blassheitstabubruch begehen. Wer sonst sollte einen darauf hinweisen, wer sonst könnte einschätzen, was „blass“ eigentlich bedeutet? Bei Menschen, die man nicht gut kennt, muss man es sich immer verkneifen. Mancher ist mit einem grünlichen Teint auf die Welt gekommen. Und wer wäre man, das zu kritisieren?
SEBASTIAN KEMPKENS
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