Don Quichotte im Eis

Kindliches Lektüreglück: Mirko Bonnés antarktischer Roman „Der eiskalte Himmel“

Die Antarktis: scheußliche Kälte, unendliches Eis, trostlose Polarnachtfinsternis. Ein Eldorado für Robbenjäger und robbenbärtige Entdecker. Cook, Drake, Weddell, Scott und wie sie alle hießen, wagemutige Ausdauerkünstler, die dafür lebten, irgendwo als Erste ihren Fuß hinzusetzen und einem Niemandsland ihren Namen aufzuprägen.

Was aber treibt einen Schriftsteller wie Mirko Bonné in diese Gefilde? Was gibt es hier noch zu entdecken? Wie verhält sich eine literarische Passage an den Kältepol der Welt zu jenen Stoffen und Themen, mit denen man sich für gewöhnlich einige tausend Kilometer weiter nordwärts herumzuschlagen hat? Daniel Kehlmann hat den Ton vorgegeben: Wie man in die Historie der vermessenen Welt eintaucht, die großen aufklärerischen Entzauberer als Romanfiguren neu entdeckt und dabei im Vorbeigehen völlig neue Literaturmärkte erschließt.

Mirko Bonné dagegen geht es mit seinem neuen Roman „Der eiskalte Himmel“ ein wenig wie dem tragischen Robert F. Scott, der den Wettlauf zum Pol gegen den Norweger Roald Amundsen verloren hat: Wo er Neuland zu betreten hoffte, sind schon die Spuren derer im Schnee, die schneller waren.

Aber auch das Scheitern besitzt eine eigene Form der Kurzweil. Vielleicht stammt Bonnés Protagonist nicht von ungefähr aus dem Dunstkreis des unglücklichen Scott: Sir Ernest Shackleton, ein Mann „von dem sie alle nur im Flüsterton sprachen“.

Am Vorabend des Ersten Weltkriegs bricht er mit seinem Schiff „Endurance“ gen Süden auf, um zu Fuß die Antarktis zu durchqueren. Während sich Menschen und Maschinen in einem bisher ungekannten Maß zusammenrotten, der Welt als Ganzes ihre Unschuld zu rauben, segelt ein Häuflein Waghalsiger südwärts, um unbeirrt einer Form des Heldenmuts zu frönen, der die Stunde bereits geschlagen hat. An Bord eine Bibliothek der großen Entdeckungsfahrten, eine Crew knorrige Originale, wie sie im Buche stehen, und ein blinder Passagier, dazu bestimmt, das Erlebte später im Rückblick zu berichten– Merce Blackboro, der fingierte Autor eines Romans, der ansonsten auf nackten Tatsachen fußt.

Diese nehmen sich, im kalten Licht betrachtet, ziemlich trostlos aus. Shackletons Expedition ist ein auf ganzer Linie gescheitertes Unternehmen. Noch bevor die Abenteurer überhaupt den Ausgangspunkt erreichen, bleibt ihr Schiff schon im Packeis stecken. Einer nach dem anderen gehen die mitgeführten Schlittenhunde an ekelhaften Eingeweidewürmern zugrunde. Der Rest ist ein Vegetieren in unerbittlicher Kälte: zugefrorene Augenlider und verdreckte Unterwäsche. Mit Mühe retten sich Shackleton und seine Leute am Ende wieder dorthin, von wo sie aufgebrochen sind, um einige altmodische Heldenabenteuer reicher, doch ohne jede Vorstellung davon, wie sich die Welt, aus der sie herausgefallen waren, in der Zwischenzeit verändert hat.

Vielleicht hätte daraus wirklich ein Roman werden können. Shackleton als eine Art moderner Don Quichotte des Eises. Doch noch bevor die Reise losgeht, ist Bonneés Schiff schon auf der Datenbank gestrandet. Sauber recherchiert sind die Details, terminologisch ist alles am rechten Fleck, von der „Rahnock“ bis zum „Schanzkleid“. Trotzdem hätte man sich gewünscht, Bonné hätte aus all dem nautisch-korrekten Takelgeschnür von „Marlleinen“ und „Bindseln“ ein ordentliches Seemannsgarn geflochten.

Über die Antarktis heißt es an einer Stelle: „Das Land ist so weiß, die Berge so schwarz, dass sie wie eine Schrift erscheinen, die man nicht lesen kann und deren Sinn sich nicht erschließt.“ Der Erzähler Blackboro rudert hinüber zu einer Küste, die ihm im Traum erschienen ist. Fast will es scheinen, als hätte sich Bonné mit diesem Buch Ähnliches erfüllt. Ein Roman wie ein Schiff ins Land kindlichen Lektüreglücks. Aber was heißt „erfüllt“? Am Ende steht ein etwas peinliches Erwachen. Man findet sich wieder in einer Welt, die andere Sorgen hat. Zum Beispiel die, dass die Polkappen in absehbarer Zeit dahingeschmolzen sein könnten, wie die Ära der großen Entdecker. STEFAN KISTER

Mirko Bonné: „Der eiskalte Himmel“. Schöffling, Frankfurt am Main, 432 S., 24,90 Euro