: „Ich fühlte mich wie eine Ein-Frau-Brigade“
KRIEGSBERICHTE Lee Miller war nicht nur Man Rays Model. Sie dokumentierte als Journalistin auch den Kampf der Alliierten Truppen gegen Nazi-Deutschland. Was sie sah, beförderte ihren Hass auf die Deutschen. Endlich liegen ihre Fotoreportagen nun übersetzt vor
LEE MILLER
VON MICHAEL SONTHEIMER (TEXT) UND LEE MILLER (FOTOS)
Am Abend des 30. April 1945 kam Lee Miller in Dachau an. Soldaten der U.S. Army hatten das Konzentrationslager am Tag zuvor befreit. „In diesem Fall liegt das Lager so nah an der Stadt“, schrieb die amerikanische Kriegsberichterstatterin, „dass es keinen Zweifel daran geben kann, dass die Einwohner wussten, was da vor sich ging.“
Im Krematorium des Lagers waren Berge von Leichen. In den Baracken lagen die meisten der einstigen Häftlinge apathisch auf den Pritschen, viele von ihnen entkräftet, todgeweiht. Während Lee Miller in einer Baracke fotografierte, wurde bei zwei der Insassen der Tod festgestellt. Kräftige Kollegen zerrten die Leichen ins Freie und warfen sie auf einen Haufen, „damit“, so Miller, „ein Wagen, der jeden Tag seine Runde macht, sie einsammeln kann wie Müll“.
Lee Miller war eine Woche zuvor 38 Jahre alt geworden; die Amerikanerin war eine der wenigen Frauen, die aufseiten der Alliierten über den Krieg gegen die Deutschen berichten konnten. Sie fotografierte und schrieb für das Modemagazin Vogue. Klaus Bittermann hat nun endlich ihre 1992 auf Englisch erschienenen Berichte ins Deutsche übersetzen lassen und in der Edition Tiamat veröffentlicht: „Krieg. Reportagen und Fotos. Mit den Alliierten in Europa 1944–1945“.
Lee Miller war im Juli, etwa drei Wochen nach der Invasion der Alliierten in der Normandie, am Omaha Beach angekommen, um über die Arbeit der Ärzte und Schwestern in einem Feldlazarett zu berichten. Über Paris, das Elsass und Aachen zog sie mit den siegreichen amerikanischen Truppen nach Deutschland.
Dachau war nicht das erste KZ, das Miller sah und in dem sie fotografierte, zwei Wochen zuvor hatte sie dem Grauen im KZ Buchenwald ins Auge geblickt, ein Grauen, das sie zeit ihres Lebens verfolgte. Und das sie die Deutschen ausdauernd hassen ließ.
Über ihre Zeit in Bayern schrieb sie an die Vogue-Chefredakteurin in London: „Der Anblick der blau-weiß gestreiften Lumpen, die den bestialischen Tod von so vielen verhungerten und verstümmelten Männern und Frauen umhüllten, ließ uns nach frischer Luft und Gewalt verlangen – und wenn München, der Geburtsort dieses Grauens, fiel, wollten wir dabei helfen.“
Doch es gab nichts mehr zu helfen. Die Wehrmacht leistete kaum noch Widerstand, als die U.S. Army die „Hauptstadt der Bewegung“ innerhalb eines Tages einnahm. Mit ein paar Soldaten besetzte Miller Adolf Hitlers Wohnung am Prinzregentenplatz. Schließlich stieg sie in seine Badewanne. Das von ihrem Kollegen und Freund David E. Scherman aufgenommene Foto ist eine emblematische Selbstinszierung: Lee Miller blickt melancholisch in die Kamera, in der Höhle des Löwen, der besiegt ist.
Es ist dieses Foto, das Miller unter Kennern der Fotografie des Zweiten Weltkriegs zum Mythos gemacht hat, aber es ist auch ihr glamouröses Leben vor dem Krieg. Die im April 1907 als Tochter eines Ingenieurs in Poughkeepsie im US-Bundesstaat New York geborene Miller ging mit achtzehn Jahren nach Paris, wurde mit zwanzig als Model von dem Verleger Condé Montrose Nast für Vogue entdeckt. Noch nicht lange in Paris, da war sie Freundin, Muse und Modell des Surrealisten Man Ray und lernte von ihm das Fotografieren.
Sie heiratete einen ägyptischen Tycoon, kehrte aber – von Ehemann, Morgenland und Nichtstun gelangweilt – nach Paris zurück, wo sie 1937 ihren zweiten Mann, den englischen Künstler und Kunstsammler Roland Penrose, traf. Die beiden lebten in einem Haus in London-Hampstead, in dem die Wände voll waren mit Bildern von Picasso, George Braques, Max Ernst und anderen Freunden aus Paris.
Um wirtschaftliche Unabhängigkeit bemüht, arbeitete sie als Fotografin. Sie fotografierte Accessoires für Vogue, doch als Hermann Görings Luftwaffe im „Blitzkrieg“ London bombardierte, kam ihr das frivol und sinnlos vor. Sie wollte auch ihren Beitrag leisten im Kampf gegen Nazi-Deutschland.
Es ist ein verbreiteter Irrtum, dass Miller und ihre große Konkurrentin, die spätere Magnum-Fotografin Margaret Bourke-White, die einzigen Reporterinnen auf der Seite der Alliierten waren. Bis zu einem Dutzend Journalistinnen begleiteten den Vormarsch in Richtung Deutschland, die bekannteste unter ihnen war Martha Gellhorn, damals mit Ernest Hemingway verheiratet.
Die Frauen waren in der extremen Männerwelt des Krieges auf sich allein gestellt. „Das war lange vor Women’s Lib,“ sagte Miller sehr viel später, „und ich fühlte mich wie eine Ein-Frau-Brigade.“
Miller produzierte Bilder, und sie produzierte Worte. Geschrieben hat sie dabei ausgesprochen modern: subjektiv; selten hochgestochen, meist in Alltagssprache. Sie berichtete, was sie erlebt hatte, sie beschrieb ihre Gefühle und Gedanken. Sie erzählte einfach.
Streckenweise lesen sich ihre Berichte wie ein Vorgeschmack auf den „New Journalism“ von Hunter S. Thompson und anderen aus dem Vietnamkrieg: „Zur Belagerung von Sain-Malo fuhr ich per Anhalter. Meine Matratze hatte ich selbst mitgebracht, um Unterkunft und Verpflegung bettelte ich.“
Manchmal ließ Miller ironisch ihre Vergangenheit als Modefotografin durchblicken, etwa wenn sie über Aachen schrieb, dass die Menschen „Pelzmäntel, Seidenstrümpfe und äußerst hässliche Hüte“ trugen. Oder dass den amerikanischen Soldaten die Handgranaten am Gürtel baumelten, als seien es Cartier-Ohrringe. Gleichzeitig, erinnerte sich ihr Kollege David Sherman, sei sie „schmutzig wie ein GI“ gewesen, habe wochenlang ihre Hosen und ihr Hemd nicht wechseln können.
Hass auf die Deutschen ist der rote Faden, der Lee Millers Artikel durchzieht. Schon zu Beginn ihres Einsatzes schrieb sie: „Ich verkrampfte mich jedes Mal, wenn ich einen Deutschen sah, und verachtete mich dafür, wenn mein Herz beim Anblick deutscher Verwundeter unfreiwillig weich wurde.“
Der brillante Einstieg ihres Artikels „Deutschland. Der Krieg ist gewonnen“ gehört in diesem Kontext ausführlicher zitiert: „Deutschland ist ein schönes Land – mit Dörfern wie Juwelen und zerbombten Stadtruinen – und es wird von Schizophrenen bewohnt. Es gibt blühende Landschaften und schöne Aussichten; auf jedem Hügel thront ein Schloss. Die Weinberge an der Mosel und die frisch gepflügten Felder sind fruchtbar.“
Und weiter schreibt sie: „Kleine Mädchen spazieren nach ihrer Erstkommunion in weißen Kleidern und Blumenkränzchen in der Hand herum. Die Kinder haben Stelzen, Murmeln, Kreisel und Reifen. Mütter nähen, putzen und backen; Bauern pflügen und eggen; alles ist wie bei richtigen Menschen. Aber das sind sie nicht. Sie sind der Feind. Dies ist Deutschland, und es ist Frühling.“
Miller war keine Militärfotografin, wie es sie bei den Deutschen und Sowjets ausschließlich gab, sie war formal unabhängig, aber sie arbeitete „embedded“ und war absolut parteilich. Der Tod von Kameraden nahm sie mit. „Ich werde hart und voller Hass“, schrieb sie.
Immer wieder brach aus ihr die Verachtung für die Verursacher des Zweiten Weltkriegs heraus: „Welche Verdrängungsleistung in ihren schlecht belüfteten Hirnwendungen bringt sie zu der Vorstellung, sie seien ein befreites Volk und kein besiegtes?“
Millers Vorfahren väterlicherseits kamen aus Deutschland. Doch selbst zwei Jahre nach dem Ende des Kriegs, als sie ihren Sohn erwartete, meinte sie: „Ich bin ein Anhänger der ‚Ein guter Deutscher ist ein toter Deutscher‘-Theorie und hoffe, dass er so wenig wie möglich Kontakt zu Deutschen und die Möglichkeit, sie zu mögen, haben wird.“
Lee Miller ging es nicht um Objektivität. Ihre Texte waren Propaganda, ein Teil des „war effort“, ihre Bilder ebenso. Sie war im Gegensatz zu ihrem berühmten Kollegen Robert Capa keine Pazifistin, die über den Horror des Krieges aufklären wollte. Miller fotografierte selten tote Soldaten, so gut wie nie amerikanische. Stattdessen nahm sie Gräber von Amerikanern auf. Ihre Bilder argumentieren nicht gegen den Krieg, sondern gegen die Deutschen als Feinde.
In den Konzentrationslagern fotografierte sie am häufigsten Überlebende. Nicht die halbtoten, die sich nicht merkten, dass sie fotografiert wurden. Sie zeigte die Überlebenden als Zeugen, als Trauernde, als Subjekte.
Miller hatte zu viel gesehen. Schon während des Krieges trank sie viel. Im Frieden, zurück in England, wurde sie zur Alkoholikerin und verfiel in Depressionen. Dass sie als siebenjähriges Mädchen von einem Freund der Familie vergewaltigt worden war und ihrem Vater auch noch als Teenager als Nacktmodell zur Verfügung stehen musste, könnte die Depression noch befördert haben.
Vier Jahre nach Kriegsende zog sie mit ihrem Mann und ihrem Sohn in ein Landhaus in Chiddingly in East Sussex. Sie verstaute ihre Fotos und etwa 40.000 Negative auf dem Dachboden und zog sich in Küche und Garten zurück. Über den Krieg und ihre Arbeit als Reporterin sprach sie nicht mehr.
Erst nach ihrem Tod – sie starb 1977 im Alter von 70 Jahren an Krebs – erschlossen ihr Sohn Antony Penrose und dessen Frau Suzanna ihr Werk und gaben mehrere Bücher mit Lee Millers Fotos heraus.
Es sagt viel über die Nachkriegszeit und die gesellschaftliche Stellung der Frau, dass Miller so lange in Vergessenheit geraten konnte, denn sie war eine ganz große Reporterin.
Wie ihr Kollege Sherman in seinem Vorwort von „Lee Miller: Krieg“ witzelte, hätten allerdings viele ihrer Freunde sie vor dem Krieg kaum mehr als Einkaufszettel schreiben sehen. Doch dann begann sie, so Sherman, Tausende Worte lange Texte zu verfassen, „die zum eloquentesten Journalismus aus dem Zweiten Weltkrieg gehören“.
■ Das Buch „Lee Miller. Krieg. Mit den Alliierten in Europa. 1944-1945. Reportagen und Fotos“ ist im Verlag Edition Tiamat erschienen