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Archiv-Artikel

„Ein Denkmal anderer Art“

„Die Stiftung wollte sichergehen, dass durch Interviews mit italienischen Militärinter-nierten keine Rechtsansprüche entstehen“

INTERVIEW DIRK ECKERT

taz: Herr von Plato, sehen Sie sich eigentlich als eine Art Steven Spielberg von Lüdenscheid?

Alexander von Plato: Nein, Spielberg hat ja mit der Shoa Foundation andere Schwerpunkte und finanzielle Möglichkeiten.

Aber Spielberg und Ihr Lüdenscheider Institut für Geschichte und Biographie machen etwas Ähnliches: Zeitzeugeninterviews mit NS-Opfern.

Ja, aber bei Spielbergs Projekt ging es vor allem um jüdische Holocaust-Überlebende, bei uns um ehemalige Zwangsarbeiter, darunter allerdings auch jüdische Sklavenarbeiter. Wir wollen insgesamt 600 Interviews durchführen. Für europäische Verhältnisse ist das kein kleines Projekt.

Sie haben schon einige Interviews geführt. Was hat Sie besonders überrascht?

Die unglaubliche Breite an Erfahrungen ist das eigentlich Überraschende. Da ist der Pole, der auf einen Hof in Deutschland kommt und darüber fast froh ist, weil in dieser Gegend der Krieg noch nicht angekommen ist. Vergleichen Sie das mal mit einem jüdischen Jugendlichen von 17 Jahren, der in einer Schwefelfabrik arbeiten musste mit einer Lebenserwartung von drei Monaten, dann abhauen konnte, sich dem polnischen Untergrund anschloss und mit der russischen Armee einmarschierte. Dies sind zwei vollkommen unterschiedliche Beispiele dafür, wie schrecklich oder erstaunlicherweise gemäßigt sich Zwangsarbeit für die Menschen ausgewirkt hat.

Was fragen Sie denn konkret?

Nach der Verfolgungsgeschichte, aber auch nach Vor- und Nachgeschichte. Auf diese Weise müssen sich die Befragten nicht auf ihre Opfergeschichte reduzieren lassen, sondern können ihr gesamtes Leben darstellen. Hier besteht wohl auch ein methodischer Unterschied zu den Spielberg-Befragungen.

War es schwierig, die Interviews zu führen?

Sehr unterschiedlich. Einige jüdische Befragte hatten Vorbehalte einer deutschen Institution gegenüber. Wir werden schließlich finanziert von der Stiftung „Erinnerung, Zukunft, Verantwortung“, die von deutschen Unternehmen und den deutschen Steuerzahlern getragen wird. Ich habe aber die Erfahrung gemacht, dass die meisten jüdischen Verfolgten großes Interesse daran haben, dass ihre Geschichte nicht aus der deutschen Kultur herauskatapultiert wird – auch nicht durch Selbstbeschränkung. Manche haben aber einen solchen Schnitt mit Deutschland gemacht, dass sie damit nichts mehr zu tun haben wollen.

Kostet es die Befragten Überwindung, die eigene Verfolgungsgeschichte zu erzählen?

Ja, gerade die Sklavenarbeiter und Sklavenarbeiterinnen, also Menschen, die im KZ zur Zwangsarbeit gezwungen wurden, haben traumatische Erfahrungen gemacht. Es kostet Mühe, über diese Traumatisierung zu sprechen. Damit umzugehen, ist immer eine Gratwanderung – für beide Seiten, Interviewte wie Interviewende. Da ist ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen und Takt gefragt, aber auch Bereitschaft zum Nachfragen. Ich habe häufig in solchen Gesprächen die Vorbemerkung gemacht: Wir wissen beide, wie schwer es werden kann. Aber wenn wir uns entschließen, dieses Interview zu machen, sollten wir nicht bei den ersten Tränen aufhören.

Wie kommen Sie überhaupt an die Betroffenen?

Wir arbeiten mit 34 Gruppen in 27 Ländern zusammen, die auch die meisten Interviews machen. Diese Gruppen kommen auf sehr unterschiedliche Weise an die ehemaligen Zwangsarbeiter heran. Das reicht von Anfragen bei deren Interessenvertretungen bis hin zu Aufrufen in Zeitungen. Zum Teil haben sie auch schon Befragungen durchgeführt, etwa Memorial in Moskau. Das führte auch zu sehr unterschiedlichen Auswahlkriterien.

Aus welchem Grund?

Es war sehr bald so, dass die verschiedenen osteuropäischen Partnerorganisationen der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung, Zukunft“ wollten, dass ein großer, festgelegter Anteil an den Interviews aus ihrer Klientel stammen sollte, weil aus Osteuropa auch die meisten Zwangsarbeiter kamen. So hat es sich nach einer Weile durchgesetzt, dass eher nach den Opferorganisationen und den jeweiligen Ländern ausgewählt wurde als per wissenschaftlichem Zufallsprinzip. Die Gruppen vor Ort haben nach anfänglicher Diskussion mit der Berliner Stiftung auch Mitnutzungsrechte an den Interviews bekommen, die sie selbst geführt haben.

Heißt das, dass es innerhalb des Projekts eine Machtverschiebung gegeben hat hin zu den Gruppen vor Ort?

Nein, da würde die Stiftung aufstöhnen, wenn sie das hören würde. Aber es gab schwierige Urheberrechtsfragen. Schließlich wurde klar, dass es sinnvoll ist, den Gruppen vor Ort weitgehende Mitnutzungsrechte zu geben. Die Interviews sind ja alle in der jeweiligen Landessprache geführt, nur ein Teil wird ins Deutsche übersetzt.

Außer Urheberrechtsfragen gab es keine Probleme?

Doch, bei der Auswahl der Zwangsarbeiter in Osteuropa. Weil Spielberg und andere schon Interviews vor allem mit Juden initiiert hatten, gab es Kritik, dass wir schon wieder Interviews mit Juden machen wollten.

Von wem?

Von den Partnerorganisationen der Stiftung, überwiegend aus der Ukraine.

Wie ist das gelöst worden?

Wir interviewen auf jeden Fall auch ehemalige Sklavenarbeiter. Das waren zumeist Juden. So kamen wir auf 30 Prozent jüdischer Befragter, auch in Osteuropa und nicht nur in Israel, den USA oder den Niederlanden.

War es leicht, ehemalige Zwangarbeiter zu finden?

Das war sehr unterschiedlich. In Russland war es einfach, weil dort schon Gruppen zu dem Thema gearbeitet hatten. Aber auch nur in den Städten. Bei den Roma in Osteuropa tauchte ein Problem auf, das uns völlig überrascht hat: Die Lebenserwartung von Roma dort liegt bei ungefähr 65 Jahren. Somit war die Wahrscheinlichkeit groß, dass diejenigen, die wir befragen wollten, schon tot sind. Wir wollten aber fünf Prozent Roma aus Osteuropa dabei haben.

Wie kommt diese Zahl zustande?

Das war das Ergebnis von Absprachen mit einer internationalen Jury und mit den Partnerorganisationen.

Warum kommt solch ein Projekt eigentlich erst 60 Jahre nach Kriegsende in Gang?

Die historische Zunft untersucht in kleinen Teilen seit Ende der 70er Jahre die Geschichte der Opfer. Allerdings stießen diese Historiker damals auf Abwehr, als sie in die Betriebsarchive wollten. Erst nachdem Banken und Firmen in den 90ern auf den US-amerikanischen Markt wollten und befürchten mussten, dass sie dort mit Sammelklagen konfrontiert werden könnten, erst da wurde die Bereitschaft dieser Firmen größer, sich zu öffnen. Das hat dann auch zur Gründung der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung, Zukunft“ geführt. So sollten die Opfer entschädigt und Sammelklagen verhindert werden.

Und diese Stiftung finanziert auch Ihr Projekt?

„Wegen der Auswahl der Zwangsarbeiter gab es Kritik, weil Spielberg und andere schon vor uns Interviews vor allem mit Juden geführt hatten“

Die Gelder der Stiftung sind ja eigentlich dafür vorgesehen, die Opfer zu entschädigen. Jetzt stellt sich aber heraus, dass viele schon verstorben oder nicht „anspruchsberechtigt“ sind. Das Positive an dieser traurigen Geschichte ist nun, dass die Gelder auch für dieses Projekt ausgegeben werden können, was die Stiftung ohnehin vorhatte. Denn die verbliebenen Zwangsarbeiter werden dadurch auch als Opfer anerkannt. Eine wissenschaftliche Aufnahme ihrer Geschichte ist für sie von großer Bedeutung, nicht nur für uns Historiker. Es ist – sozusagen – ein Denkmal anderer Art.

Was meinen Sie damit?

Ein Denkmal nicht aus Stein und Beton, sondern aus ihren Erfahrungen und Erzählungen.

Sie interviewen auch Menschen, die nicht entschädigt wurden. Gab es in den Interviews Beschwerden darüber?

Ja, die Westeuropäer wurden zum Beispiel nicht entschädigt, die Kriegsgefangenen, auch die italienischen Militärgefangenen nicht. Und gerade aus dieser Gruppe kamen solche Beschwerden. Wir wollten aber Menschen aus möglichst vielen Gruppen interviewen. Die Stiftung hatte nichts dagegen. Sie wollte nur bei den italienischen Militärinternierten sichergestellt wissen, dass keine Rechtsansprüche dadurch entstehen, dass wir sie als Zwangsarbeiter behandeln.

Was passiert mit den vielen Interviews, die zum Teil auch auf Video aufgezeichnet sind?

Ein Drittel aller Interviews wird auf Video aufgezeichnet. Wir haben dabei auf höchste Qualität bestanden, so dass sie auch im Fernsehen oder in Ausstellungen gezeigt werden können. Auch in Schule und Erwachsenenbildung kann damit gearbeitet werden. Die 34 Gruppen haben inzwischen drei Viertel ihrer Interviews abgeliefert. Wir werden ein dickes Buch machen, das möglichst viele der Erfahrungen aus den verschiedenen Ländern aufnimmt. Die 600 Interviews dürften darüber hinaus noch genügend Material für weitere Bücher und wissenschaftliche Aufsätze bieten.

Zunächst geht es Ihnen also darum, die Erinnerungen zu sichern?

Richtig. Wir archivieren das Material. Die Berliner Stiftung will das auch, vielleicht in einer Gedenkstätte in Berlin-Schöneweide, die gerade gebaut wird. Die Stadt Berlin unterstützt die Gedenkstätte derzeit mit zwei Stellen. Wenn dort unser Material wirklich aufgearbeitet werden sollte, reicht das natürlich nicht.

Steven Spielberg hat gesagt, er hoffe, mit seinem Projekt 48.000 ehemalige Opfer zu Lehrern machen zu können. Verbinden Sie mit ihrem Projekt ebenfalls diese Hoffnung?

Berichte von Zeitzeugen sind viel anschaulicher als Akten. Insofern: Ja, auch wir hoffen, dass aus den ehemaligen Verfolgten Lehrer für die Zukunft werden.