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Archiv-Artikel

„Niemand wird verhungern“

Müntefering verteidigt Hartz IV und dessen Fortentwicklung gegen die Attacken der Unions-Länderchefs. Dass nicht essen soll, wer nicht arbeitet, will er nicht gesagt haben

BERLIN taz ■ Arbeitsminister Franz Müntefering (SPD) gab gestern den Ministerpräsidenten der Union ins Pfingstwochenende die Botschaft mit, dass sie jetzt das Feuer auf die Arbeitsmarktreform Hartz IV bitte einstellen mögen.

Die Länderchefs von Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Hessen und Bayern fordern seit Tagen eine Generalrevision von Hartz IV und weitere Leistungskürzungen. Zuletzt stand gar die Andeutung im Raum, sie wollten dem vorgestern im Bundestag verabschiedeten „Fortentwicklungsgesetz“ zu Hartz IV im Bundesrat nicht zustimmen. Hierzu erklärte Müntefering gestern in Berlin: Dieses Gesetz sei von den Koalitionsspitzen Sonntagabend beschlossen worden, „und es geht nicht, dass auf dem Obergefreiten-Wege“ ständig Vereinbarungen hintergangen würden.

Müntefering gab allerdings zu, dass Hartz IV seit Inkrafttreten 2005 auch ungeahnte Probleme aufwirft. Etwa führe das Kriterium, wonach erwerbsfähig ist, wer drei Stunden am Tag arbeiten kann, dazu, dass nur noch 3,1 Prozent der Erwerbspersonen als nicht erwerbsfähig gelten. In Großbritannien betrage diese Rate 6,5 Prozent, in den Niederlanden gar 8,1 Prozent, weshalb diese Menschen auch nicht als zu Vermittelnde in der dortigen Arbeitslosenstatistik auftauchen.

Dies „war möglicherweise etwas, was bei der Konzipierung des Gesetzes nicht erkannt werden konnte“, sagte Müntefering. Er schien vergessen zu haben, dass der seinerzeitige Chef der Bundesagentur für Arbeit (BA) schon sehr früh davor gewarnt hatte, Alkoholiker oder Schwerkranke umstandslos ins neue Arbeitslosengeld II zu überführen. Ändern aber möchte Müntefering das Erwerbsfähigkeitskriterium, das die Hartz-Statistiken verdüstert, keinesfalls.

Nicht am Gesetz selbst, aber an dessen Umsetzung schrauben will Müntefering dagegen im Punkt der Vermittlungszuständigkeiten. Nach wie vor geht im Kompetenzgerangel zwischen BA und den Kommunen beziehungsweise Ländern beträchtliche Energie verloren. In vielen der Arbeitsgemeinschaften (Argen) vor Ort sei unklar, wer „den Hut aufhat“, sagte Müntefering und kündigte „Kontrollen“ an. Er schloss aus, dass die Argen nun zusätzlich mit den nordrhein-westfälischen oder niedersächsischen Kombilohn-Modellen beauftragt würden. 2008 soll überprüft werden, ob die hälftig aus BA und Kommunen bestrittenen Argen oder die 70 Kommunen, die die Arbeitsvermittlung unbedingt alleine bestreiten wollen, besser funktionieren. Möglicherweise werden die Zuständigkeiten dann noch einmal neu sortiert.

Müntefering verteidigte die im letzten Moment nachgeschobene Verschärfung im Fortentwicklungsgesetz, wonach nun bei dreimaliger Arbeitsverweigerung innerhalb eines Jahres das ALG II inklusive Mietzuschuss komplett gestrichen werden kann. „Es wird niemand verhungern“, sagte er. „Es wird keiner liegen gelassen am Rande.“ Denn „Sachleistungen“ für Wohnen, Kleidung und Essen würden im Zweifel immer erbracht.

Der Arbeitsminister möchte auch nicht mehr vorgehalten bekommen, er habe sich die Ausage des Ur-Sozialdemokraten August Bebel zu Eigen gemacht, der 1879 schrieb: „Der Sozialismus stimmt mit der Bibel darin überein, wenn diese sagt: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.“ Müntefering erklärte dazu gestern, in der fraglichen SPD-Fraktionssitzung am 9. Mai habe er gesagt: „Unsere Vorfahren haben gesagt: Wer … Wir sagen das nicht mehr. Wir sagen Fördern und Fordern.“ Die SPD-Abgeordneten, die Münteferings Bebel-Bibel-Zitat gehört hatten, sind sich bis heute allerdings recht sicher, dass ihr Minister sich seinem Vorfahren sinngemäß anschließen wollte. ULRIKE WINKELMANN

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