Porträts des Politischen

FOTOGRAFIE Barbara Klemms Gespür für den Augenblick ist einzigartig. Im Gropius-Bau sind Werke von 1968 bis heute zu bewundern

VON JENS UTHOFF

Diese Momente muss man erst mal erwischen. Die Hundertstelsekunde, in der Blicke zu Aussagen werden. Etwa am 4. November 1989, in Berlin: Gregor Gysi, Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley, Schauspieler Ulrich Mühe und Schriftsteller Heiner Müller bei der Großdemonstration am Alexanderplatz. Sie alle blicken in eine nicht allzu ferne, in eine andere Zukunft.

Die große Fotografin Barbara Klemm hat jene Augenblicke meist getroffen – ob bei Gysi oder Gorbatschow, bei Augusto Pinochet oder Gerhard Schröder. Klemm ist politische Chronistin, und sie ist Geschichtenerzählerin. „Es war mir immer ein Anliegen zu zeigen: Wie sieht’s in der Welt aus“, hat sie einmal gesagt – sie schafft das sogar in ihren Porträts. Der Martin-Gropius-Bau zeigt nun die gesamte Breite ihres Schaffens in der Ausstellung „Fotografien 1968–2013“. Unter den 300 Exponaten – die meisten im Format 40:30 – sind ländliche Welten, verarmte Gegenden, Städtebilder und Demo-Fotos zu sehen.

Den Namen Barbara Klemm mag nicht jeder kennen, Aufnahmen von ihr hat aber wohl jeder schon einmal gesehen. Klemm, die bis heute mit Schwarz-Weiß-Fotos arbeitet, hat als Fotografin für die Frankfurter Allgemeine Zeitung die großen Momente der Weltgeschichte seit den 1970er Jahren festgehalten. Auch die Kunstwelt und den Rock ’n’ Roll hat sie kollektiviert: Wer hätte Mick Jaggers Mund, Janis Joplins Mähne oder die stumpfen Mundwinkel des Michel Houellebecq besser in Szene setzen können?

Erzählerin und Chronistin

In erster Linie aber gilt Klemm als Meisterin der politischen Porträts – genauer müsste man sagen: Porträts des Politischen. Das ikonografisch gewordene Bild Willy Brandts, als er 1973 Leonid Breschnew in Bonn empfängt, hängt im Eingangsraum des Gropiusbaus. Ein ganzer Raum ist den politischen Fotografien gewidmet – den dezidiert politischen, denn es sind kaum Bilder ohne politischen Gehalt zu sehen.

Klemm führt den Betrachter in die postsowjetische Einöde oder in das China und Indien der 80er. Man sieht abgerissene Menschen auf einer düsteren Kreuzung in Kalkutta, während eine Rikscha die Straße kreuzt. Man betrachtet einen schwer bepackten Mann in La Paz, Bolivien: eine Welt der Last und des Ballasts. Eine Welt des Mangels und des Trotzes.

Folgt man der Erzählerin Klemm weiter, so kann man sie als Chronistin der deutschen Protestbewegungen erleben. Ein Raum zeigt beeindruckende Demonstrationsfotografien: Vietnam-Proteste, Startbahn West, die Anti-Atom-Bewegung der Achtziger. Klemms starker Blick für Konstellationen fällt auf, insbesondere bei diesen Aufnahmen arbeitet sie stärker mit Kontrasten als in den übrigen.

Zeitungsleser können Klemm in der Schau als Naturfotografin neu entdecken. Es sind Bilder, die mit ihren tollen Kompositionen bisweilen an Andreas Feininger erinnern. Am ehesten hätte man auf einige Museums- und Architekturaufnahmen verzichten können – nicht wegen fehlender künstlerischer Qualität, sondern weil die Schau mit der großen Anzahl an Fotografien auch ein wenig überfordert.

Bilder der Teilung

Die Kuratoren stellen darüber hinaus die gesamten Zeitungsseiten mit Klemms Fotos aus, darunter zahlreiche Seiten aus „Bilder und Zeiten“, der Tiefdruckbeilage, die bis 2001 das Schmuckstück in der Samstagsausgabe der FAZ war (eine Million Fotos von Klemm liegen übrigens im Archiv der Zeitung). Klemm hat viel für „Bilder und Zeiten“ gearbeitet, oft thronten ihre Fotos sechsspaltig über den Texten. Hier sieht man einen verhüllten Reichstag oder eine ganzseitige Aufnahme des World Trade Centers. Es ist gut, diese Fotos im Zeitungskontext zu zeigen, denn so wurden sie zumeist verwendet.

Nicht nur anhand der FAZ-Seiten bemerkt man: Klemm ist die wohl prägendste Fotografin der deutschen Teilung und der deutschen Wiedervereinigung. Ihre DDR-Fotografien lassen den Betrachter zuweilen wirklich staunend zurück: Vier junge Artistinnen auf dem Trapez in Rostock, in den Seilen hängend, findet man so wirklich nur bei Barbara Klemm: Artistinnen, in der Luft baumelnd, ratlos. Klemm schafft ganz nebenbei einen eigenen Begriff vom sozialistischen Realismus – einen, den DDR-Offizielle nicht gern gesehen hätten. Und es dauerte nicht lange, da schauten Gysi und Co. so vielsagend in Klemms Kamera.