: Eine hartnäckige Deutsche
VON PHILIPP GESSLER
Vielleicht reicht schon ein Blick auf ihre Brille. Eine dunkelrosa Lesebrille vor hellgrünen Augen ist das, elegant natürlich bei dieser schicken Dame. Doch ein Brillenbügel ist grotesk verformt, durch sicher hunderte Stunde fleißiger Knabberei. Beleg einer kleinen Sucht womöglich, ein Zeichen von Anspannung wahrscheinlich – aber auch ein Signal: Diese Brille ist eben, wie sie ist, ich bin wie ich bin. Wird Charlotte Knoblochs Brille ab morgen mit schöner Regelmäßigkeit im Fernsehen zu sehen sein?
Die Wahrscheinlichkeit ist sehr hoch, denn die 73-jährige Münchnerin hat gute Chancen, morgen Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland zu werden. Am Morgen will sich das achtköpfige Präsidium der politische Vertretung der Juden in einem Frankfurter Hotel treffen, gegen Mittag wird das Ergebnis bekannt gegeben, viele Kameras werden zugegen sein. Die derzeitige Vizepräsidentin des Zentralrats wäre dann eine der prominentesten Frauen Deutschlands. Auch der Frankfurter Gemeindevorsitzende Salomon Korn könnte der Nachfolger Paul Spiegels als Zentralratspräsident werden. Am wahrscheinlichsten aber ist die Wahl Knoblochs. Es wäre die „Krönung dieses Lebens“, sagt Nathan Kalmanowicz, Vorstandsmitglied der Münchner Gemeinde.
Aber was ist das für ein Leben? Und inwiefern erklärt es uns die Frau, die aller Voraussicht nach ab morgen oberste Repräsentantin von 110.000 Jüdinnen und Juden in Deutschland sein wird?
Wer diese Frage beantworten will, muss zurückgehen ins Jahr 1938, als in Deutschland die Synagogen brannten. Charlotte Knobloch erlebte in München als Sechsjährige die so genannte Kristallnacht. Immer wieder kommt sie bei öffentlichen Reden auf diese Erfahrung zurück. Sie habe schreckliche Angst gehabt, sagt sie dann. Und sie habe die Angst ihres Vaters gespürt, an dessen Hand sie damals lief. „In diesem Moment wurde mir die erschreckende Tragweite der Geschehnisse klar – wir waren jedes bekannten, gewohnten Ortes beraubt worden, niemand konnte uns wirklich Schutz, Sicherheit und Geborgenheit gewähren“, hat sie einmal erzählt. Diese grundsätzliche Erfahrung von Angst und Schutzlosigkeit prägt noch heute Charlotte Knoblochs Handeln.
Ihr Vater Fritz Neuland war ein deutscher Jude. Er hatte im Ersten Weltkrieg für sein Vaterland gekämpft und sich danach als Rechtsanwalt und Notar niedergelassen in der bayerischen Landeshauptstadt, die damals schon die „Hauptstadt der Bewegung“ war. Charlotte Knoblochs Mutter war der Ehe, der Liebe wegen zum Judentum konvertiert. Sie ließ sich, als die Schikanen der Nazis gegen „arische“ Ehepartner zunahmen, von ihrem Mann scheiden. „Ich kann meine Mutter verstehen“, sagt Charlotte Knobloch dazu heute. „Jeder, der konnte, versuchte, sein Leben zu retten.“
Charlotte verbrachte nun viel Zeit bei ihren Großeltern. Als ihre geliebte Oma deportiert wurde, tat die wider besseres Wissen gegenüber der Enkelin so, als sei dies kein Abschied für immer. Aber selbst die erst sechsjährige Charlotte wusste, was vorging: „Ich habe das Spiel mitgespielt, um ihr nicht noch mehr wehzutun.“
Fritz Neuland brachte seine Tochter schließlich 1942, als die Verfolgung lebensbedrohlich wurde, bei Kreszentia „Zenzi“ Hummel im mittelfränkischen Herrieden unter. Zenzi war das katholische Hausmädchen eines Verwandten gewesen. Die fromme Frau gab „Lotte Hummel“, wie Charlotte jetzt genannt wurde, als ihr uneheliches Kind aus. „Zenzi verstand die Bedrohung und die Verachtung der Menschen als Gottes Prüfung“, hat Charlotte Knobloch später gesagt. Obwohl das Kind Lotte Hummel ein einsames und hartes bäuerliches Leben führte, wollte sie nicht zurück nach München, als der Krieg zu Ende war: „Ich wollte nicht noch mal alles aufgeben. Ich sehnte mich nach Geborgenheit.“ Ihr Vater hatte die Shoah überlebt.
Es gibt ein Nachspiel zu dieser Kriegsgeschichte: Die Retterin Zenzi lehnte das Bundesverdienstkreuz ab, für das Charlotte Knobloch sie später vorgeschlagen hatte – schließlich habe sie, Zenzi, ihren Lohn schon erhalten: Die beiden Brüder hatten den Krieg überlebt. Als Zenzi Jahrzehnte später ihren 85. Geburtstag feierte und auch ihre Rettungstat weiteren Kreisen bekannt wurde, gab es antisemitische Anfeindungen, sogar Morddrohungen gegen die mutige Pflegemutter. Zenzis Familie bat Charlotte Knobloch daraufhin, den Namen ihrer Retterin nicht mehr öffentlich zu nennen.
Als Zenzi starb, ging Charlotte Knobloch zur Beerdigung. Der Bürgermeister der Stadt verzichtete darauf, den Namen der prominenten Geretteten unter den Trauergästen zu nennen – wohl um die Familie, vielleicht auch um die Stadt zu schützen, wie Charlotte Knobloch vermutet. So viel zum Antisemitismus in Deutschland.
Schon mit 18 Jahren, wenige Jahre nach dem Krieg, heiratete Charlotte den von älteren Gemeindemitgliedern heute noch als sehr attraktiv beschriebenen Samuel Knobloch, einen jüdischen Kaufmann, der den Holocaust überlebt hatte. Kurz darauf kamen die drei gemeinsamen Kinder zur Welt, von denen einer der Eurohypo-Chef Bernd Knobloch ist. Dem Vater Fritz Neuland gefiel die Verbindung seiner Tochter zunächst nicht – dies war der angeblich einzige Schatten, der auf die sehr enge Beziehung zwischen Vater und Tochter fiel, wie Gemeindemitglieder erzählen.
Charlotte Knobloch ist die klassische Vatertochter. Sie absolvierte eine Handelsschule und arbeitete dann in der Kanzlei ihres Vaters, der später in den Landtag ging. Und wie ihr Vater, der lange Jahre die von ihm mitgegründete „Israelitische Kultusgemeinde“ in München führte, leitet auch sie nun schon seit mehr als zwanzig Jahren diese Gemeinde, die mit etwa 9.000 Mitgliedern die zweitgrößte der Bundesrepublik ist.
Charlotte Knobloch tut dies mit harter Hand – „Durchsetzungsfähigkeit“ ist das Wort, das am häufigsten fällt, fragt man Gemeindemitglieder nach ihren Stärken. Auf der Frauengalerie der Synagoge an der Reichenbachstraße thront sie wie eine Königin, im Business-Kostüm und hohen Schuhen, die sie anzieht, sobald sie ihren Dienstwagen verlässt, wie aufmerksame Gemeindedamen beobachtet haben wollen. Eine sehr fleißige Beterin ist Charlotte Knobloch nicht, aber zu den großen Festtagen erscheint sie zuverlässig. Und während sie früher noch eine fromme Familie regelmäßig um Rat in religiösen Fragen bat, gilt sie mittlerweile auch in diesen Dingen als bewandert.
Die Unstudierte Knobloch verfügt über die typische Lernbegierde der Autodidaktin. Ihre – etwa im Vergleich zu Salomon Korn – eher geringe formale Bildung, eine Konsequenz ihrer Biografie, könnte ein Nachteil sein, fürchten manche im Zentralrat. Andere meinen, dieses Manko könne sie durch ihre Klugheit, ihre Offenheit und ihren Charme leicht wettmachen. Immerhin bescheinigen ihr mehrere, dass sie sich mit klugen Ratgebern umgebe. Und dass sie Rat auch anzunehmen wisse. Nicht zuletzt ihr gepflegter Münchner Zungenschlag sei „hilfreich“, Menschen zu gewinnen, meint Abi Pitum, ein anderes Vorstandsmitglied der Gemeinde. Von Mauscheleien, internen Geschäftchen und gegenseitigen Anzeigen, die in der Berliner Gemeinde schon fast notorisch sind, hört man in München nichts.
Rhetorisch gilt Charlotte Knobloch als mäßig begabt, ein Malus in einem Amt, das vor allem durch Worte wirken muss. Missglückte Formulierungen oder schiefe Bilder finden sich immer wieder bei ihr, etwa als sie bei der Grundsteinlegung der neuen Synagoge in München vor knapp drei Jahren sagte: „Seit jenem 9. November 1938 ist ein Teil von mir, ein Teil meiner Koffer immer noch auf der Flucht.“
Seit Jahren verhindert die Münchner Ehrenbürgerin mit aller Energie, dass auch in ihrer Stadt „Stolpersteine“ verlegt werden. Bei der Kunstaktion in Erinnerung an jüdische Mitbürger werden kleine Messingplatten vor den früheren Häusern der Holocaust-Opfer ins Trottoir eingelassen. Salomon Korn und viele Nachkommen der Shoah-Opfer hingegen unterstützen die Stolpersteine ausdrücklich. Auch die Tatsache, dass sie vor sechs Jahren, da war sie bereits Vizepräsidentin des Zentralrats, ausgerechnet der rechtsnationalen Jungen Freiheit ein passagenweise sehr missverständliches Interview gab, gehört nicht zu den Glanzlichtern ihres Wirkens.
Doch davon wird bald niemand mehr reden – das gerade entstehende Gemeindezentrum am Münchner Jakobsplatz wird bleiben. Dies 40 Millionen Euro teure Projekt war von Anfang an Knoblochs Anliegen, „Charlottenburg“ wird es schon heute genannt. „Ich habe das ja auch über Jahre für ein totes Kind gehalten“, sagt Vorstandsmitglied Kalmanowicz, „und jetzt wird es wohl kommen. Das ist auch ihr Lebenswerk.“ Dass Neonazis einen Bombenanschlag auf die Grundsteinlegung des Baus im November 2003 planten, schockt und prägt sie noch heute.
Und was wäre nun in Zukunft von Charlotte Knobloch als Präsidentin zu erwarten? Die meisten Befragten im Zentralrat sind sich einig: wenig Spektakuläres. Sie werde sich wohl ganz in der Tradition Paul Spiegels bewegen – wahrscheinlich mit etwas bissigerem Ton als der sanfte Mahner. Wenn es um Rechtsextremismus, Geschichtsrevisionismus und Antisemitismus geht, neigt sie zu sehr klaren Aussagen. Kein Wunder, bei diesem Leben.
Die Präsidentin des Europäischen Jüdischen Kongresses und Vizepräsidentin des Weltkongresses würde sich als begnadete Strippenzieherin sicher vehement auch in die Politik der Bundesrepublik einmischen. Zugleich wird ihr zugetraut, noch stärker als ihre Vorgänger in die jüdische Gemeinschaft hineinzuwirken – um sie auch als Religionsgemeinschaft in ihrer „Jiddischkeit“ zu stärken.
Bisher sind alle Präsidenten des Zentralrats während ihrer Amtszeit verstorben. Die Münchner Kandidatin soll intern schon verkündet haben, sie wolle, so sie gewählt werde, nicht mit den Füßen voran das Amt verlassen. Mag sein, Charlotte Knobloch wird eine Übergangskandidatin, die letzte der Holocaust-Überlebenden an der Spitze des Judentums in Deutschland. Danach wird die zweite Generation, etwa Dieter Graumann oder doch noch Salomon Korn, das Ruder übernehmen. Bis dahin aber wäre Charlotte Knobloch, geborene Neuland, versteckte Hummel keine schlechte Wahl.