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Vorzeigegemeinde in Marzahn-Nord

Das älteste Projekt zur Integration von russlanddeutschen Aussiedlern in der evangelischen Kirche hat 10. Geburtstag

Die evangelische Kirchengemeinde Marzahn-Nord singt Kirchenlieder nach Melodien populärer russischer Volksweisen. Das ist praktisch, da kann sogar Bezirksbürgermeister Uwe Klett von der Linkspartei mitsingen, dem religiöse Melodien sonst wenig vertraut sind. Das Blatt mit dem Text hat er wie alle Gäste gestern zum Festgottesdienst in Marzahn erhalten.

Landesbischof Wolfgang Huber hält die Predigt in der Gemeinde, in der das älteste ehrenamtliche Projekt zur Integration von russlanddeutschen Aussiedlern innerhalb der Landeskirche beheimatet ist. Seit zehn Jahren erhalten hier in der Kirche Neuankömmlinge aus Russland, Kasachstan und aus der Ukraine Deutschunterricht. Außerdem können sie Computer- und Kochkurse zur gesunden Ernährung belegen. Die Sprachkurse mit bis zu 300 Teilnehmern pro Woche hätten mit „Schubumkehr von der babylonischen Sprachverwirrung in Berlin-Marzahn zur sprachlichen Verständigung beigetragen“, würdigt Huber das Projekt.

Knapp jedes zehnte Mitglied der 1,2 Millionen Gläubigen in der evangelischen Landeskirche Berlin-Brandenburg Schlesische Oberlausitz ist heute ein Spätaussiedler. Besonders die älteren unter ihnen sind fleißige Kirchgänger. Sie füllen die Kirchen und verlangsamen den Trend zu sinkenden Mitgliederzahlen. Doch noch nicht überall haben sich die Kirchen speziell auf die Neumitglieder eingestellt, die kulturell und religiös anders geprägt sind. Zugleich gibt es in Berlin auch von Spätaussiedlern selbst gegründete Gemeinden, in denen sie unter sich sind.

„Marzahn-Nord ist eine Vorzeigegemeinde“, sagt der Bischof. Denn in Marzahn-Nord, einem Wohngebiet, in dem jeder dritte Bewohner ein Russlanddeutscher ist, stellen diese inzwischen fast zwei Drittel der Gottesdienstbesucher. Mit ihrer Dominanz unter den Gläubigen prägen sie sogar die religiösen Bräuche, erzählt Pfarrerin Katharina Dang. „Russlanddeutsche sind es gewohnt, beim Gebet aufzustehen“, erläutert sie. Und weil es „so komisch aussah, wenn viele standen und wenige sitzen blieben, erheben wir uns jetzt alle zum Gebet“.

Zweimal in der Woche kommt die russlanddeutsche Rentnerin Irina Donis in die Kirche – zum gemeinsamen Kochen, aber auch „um hier Leute zu treffen, wie sie erzählt. „Das ist einfach mein zweites Zuhause.“ Marion Köhler vom Gemeindekirchenrat hat erst bei den gemeinsamen Kochkursen verstanden, warum Russlanddeutsche so viele Gerichte aus Hefeteig fertigen.

Köhler: „Als ihre Vorfahren vor 200 Jahren von Katharina der Großen an die Wolga geholt wurden, gab es noch kein Backpulver. Sie haben dort die alten Traditionen als ihr kulturelles Erbe bewahrt.“ Unverständlich war ihr zuerst auch, „warum sie Hefeteigtaschen mit Kartoffelpüree füllen und das auch noch gut schmeckt.“

Die Erklärung war einfach: So wurden in den kalten russischen Wintern bei der schweren Arbeit die großen Familien satt. „Weil Spätaussiedler hier weder sibirische Winter noch schwere Arbeit vorfinden, müssen sie ihre Kochgewohnheiten ändern, um nicht durch Übergewicht krank zu werden. Dabei hilft ihnen unser Gesundheitsprojekt.“

Ihre Tischnachbarin hat sich gerade Salat vom Buffet geholt, das Einheimische und Spätaussiedler gemeinsam bestückt haben. Sie sagt: „In der Ukraine war ich die Deutsche. In Deutschland bin ich die Russin. Hier in der Kirche werde ich so akzeptiert wie ich bin.“ Tatjana Daljuk, Russlanddeutsche und einst Mitstreiterin im Projekt „ZusammenLeben“, ist eigens zum Jubiläum aus dem Sauerland angereist, wo sie vor fünf Jahren Arbeit gefunden hat. „Ich bin dankbar, dass ich immer wieder nach Hause nach Marzahn kommen kann – in meine Kirchengemeinde, in der ich so viele Freunde habe.“ MARINA MAI

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