Fokus Menschlichkeit

Ermöglicht einen echten Perspektivwechsel: Die Ausstellung „Humanism in China“ im Frankfurter Museum für Moderne Kunst wurde nicht für deutsche, sondern für chinesische Besucher konzipiert

von ULRIKE MÜNTER

Ein älterer Mann in verschmutzter Arbeitskleidung sitzt sichtlich zufrieden in der kargen Berglandschaft der südchinesischen Provinz Yunnan. Nicht er, nur die grellbunten Sofas wirken auf den Betrachter im Frankfurter Museum für Moderne Kunst befremdlich, denn er glaubt sie aus den 70er-Jahren zu kennen. „Ein Bergbewohner hat in der Stadt Polstermöbel gekauft und wartet auf die Dorfbewohner, die beim Transport nach Hause helfen“, lautet der Titel des Bildes. Andere Fotografien zeigen Szenen aus ländlichen Krankenhäusern, die uns das Fürchten lehren. Schmutz und der grundsätzliche Mangel am Allernotwendigsten beschämen den Blick. Eine Infusionsflasche hängt an einem Garderobenständer und die Gesichter der Frauen, die um das Leben ihrer Kinder bangen, lassen wenig Hoffnung. Einer anderen Frau schauen wir zu, wie sie bedächtig ihr langes Haar kämmt. Im Titel erfahren wir, dass auf sie die Todesstrafe wartet. 590-mal wird in „Humanism in China“ das Leben im Reich der Mitte von der Gründung der Volksrepublik bis ins Jahr 2003 dokumentiert.

Den westlichen Museumsbesucher hatten die drei chinesischen Kuratoren An Ge, Hu Wugong und Wu Shao Qiu allerdings gar nicht im Sinn, als sie die Ausstellung planten. Dem Publikum im eigenen Land sollte anhand der Dokumentarfotos von 250 Fotografen die Entwicklungen der letzten 50 Jahre vor Augen geführt werden. Über mehrere Jahre hinweg waren sie durchs Land gereist und hatten in Archiven und Privathaushalten mehr als hunderttausend Negative gesammelt. „Erinnerungen hervorholen, Geschichte betrachten, Wahrheit aufzeigen“, mit diesen Worten wird im Katalog die Bedeutung der Ausstellung „für die heutige Kultur Chinas“ zusammengefasst. Die Ausstellungsmacher präsentierten die Fotos in Guangzhou, Peking und Schanghai, wo zufälligerweise eine Gruppe von fünf deutschen Museumsdirektoren zu den Besuchern zählte – unter ihnen Udo Kittelmann vom Museum für Moderne Kunst (MMK) in Frankfurt. Beeindruckt von der kritischen Perspektive der Kuratoren aufs eigene Land, fragte man bei den chinesischen Kollegen an, ob sie sich vorstellen könnten, „Humanism in China“ auch in Deutschland zu zeigen, und zwar genau so, wie die Schau in China zu sehen war.

Sie konnten, und nun wird die Ausstellung in Frankfurt, Stuttgart, München, Berlin und Dresden zu sehen sein. Nicht nur die Ausstellung selbst, auch der umfassende Katalog zur Ausstellung blieb unangetastet, in dem – abgesehen von den englischsprachigen Titeln und kurzen Zusammenfassungen – alle Beiträge auf Chinesisch sind. Ein deutschsprachiges Begleitheft schafft hier etwas Abhilfe, Missverständnisse sind trotzdem vorprogrammiert. Während die Kuratoren mit dem Begriff „Humanität“ schlicht meinen, dass „der Mensch im Mittelpunkt der Betrachtung steht“, denkt der Bildungsbürger in der Tradition der europäischen Aufklärung gleich die westliche Begriffsgeschichte mit, die ihn zwangsläufig skeptisch werden lässt. Was soll das sein, ein „humanistisches China“?

Der Frankfurter Galerist Lothar Albrecht, den sein Zweitstandort in Peking und die Zusammenarbeit mit seinen chinesischen Partnern und Künstlern seit 1995 zwischen den Kulturen pendeln lassen, findet zu keiner rechten Haltung, nachdem er sich die Fotos angeschaut hat: „Die Ausstellung macht mich sehr nachdenklich. Nicht, was ich sehe, ist das Problem – ich habe absolute Hochachtung vor der Leistung der Kuratoren, und für China ist das ein ganz wichtiges Projekt. Was passiert aber mit diesen Fotos, wenn sie aus ihrem ursprünglichen Kontext herausgelöst gezeigt werden? Eigentlich gehören sie nach China oder zumindest in ein historisches Museum. Hier geht es doch um den historisierenden Blick auf China, nicht um Kunst.“

Was die Kunst von der Dokumentarfotografie abgrenzt, wird in mehreren Katalogbeiträgen eigens thematisiert. Nach dem Trauma der Kulturrevolution und deren Bildpropaganda, als auch Pressefotos je nach Lage von Personen „befreit“ und durch andere Hintergrundkulissen „bereichert“ wurden, scheint es nur zu verständlich, dass die Kamera im Dienste des Alltagsrealismus als ästhetisches Ereignis erfahren wird. Zumal die Definitionsmacht der Dokumentation zunächst bei westlichen Fotografen lag – aus rein finanziellen Gründen, erst in den späten 1980er-Jahren konnten sich einige Chinesen eine Kamera leisten. Nun sei es an der Zeit, heißt es im Katalog, dass die Geschichte Chinas in China, und zwar von Chinesen, geschrieben würde. Und diese Geschichte soll auch denjenigen einen würdigen Platz einräumen, die nicht oder noch nicht am rasanten Aufschwung des Landes partizipiert haben.

Bis 27. August, Katalog (EditionBraus) 35 €