: Nicht jedem ist zu helfen
Engagement oder weiter Kellnern? Das Vorsprechen bei der zentralen Bühnenvermittlung (ZBF) ist für Schauspieler der entscheidende Moment. Den Gesetzen des Marktes muss dabei auch die ZBF gehorchen. Ein Besuch vor Ort
von FRIEDERIKE GRÄFF
„Dann nehm‘ ich uns mal weg“, sagt Rüdiger List und löscht das Licht. Ein junger Mann in Jackett und Boxershorts steigt auf die Bühne, er trägt eine Aktentasche in der Hand und sagt: „Ich weiß bis heute nicht, nach welchen Kriterien ich immer wieder freigestellt und neu eingestellt werde.“ Rüdiger List lacht, es ist ein freundliches Lachen, das den jungen Mann ein bisschen beruhigen soll, der so steif vorne steht, dass sich das Publikum uneins ist, ob das zur Rolle gehört oder nicht.
Das Publikum: Dietrich Trapp, Intendant des Jugendtheaters Wilhelmshaven, ein fröhlicher Mann mit langen Haaren, sowie Rüdiger List und Diana Anders von der Zentralen Bühnen Fernseh und Filmvermittlung (ZBF), Agentur Hamburg. Neun Schauspieler aus ihrer Kartei hat die ZBF Trapp vorgeschlagen: Junge Männer, die einen überzeugenden Pinocchio geben sollen, aber auch einen Killer und singen können sollen sie auch. Es ist nur ein Gastvertrag für ein halbes Jahr und das Wilhelmshavener Theater nicht der Ort, an dem sich Regisseure nach Talenten umsehen. Aber die Angebote für unbekannte Schauspieler sind so rar, dass auch etwas so Unspektakuläres eine Verheißung ist.
„Ziehen Sie sich in Ruhe um“, sagt List zu dem ersten Kandidaten und dann, werbend, zu Trapp: „Ein Privatschüler mit etlichen Erfahrungen.“ „Er ist nervös, das merkt man“, sagt Trapp. „Ob die Steifheit gefühlt ist?“ Der junge Mann kommt in roten Badeschuhen wieder als Diener Gobbo in Shakespeares „Kaufmann von Venedig“. Er macht es gar nicht schlecht, rennt aufgescheucht über die karge Bühne, aber mit einem Rest von Befangenheit, der den Zuschauern nicht entgeht. „Ich brauche für die Kinder eine direkte Erzählhaltung“, sagt Theaterdirektor Trapp. Dann klopft es und der junge Mann kommt wieder herein. „Ich dachte, vielleicht reden Sie gerade über etwas Wichtiges“, sagt er, bevor Trapp ihn nochmal Nummer 27b aus Falk Richters Stück spielen lässt, nur dass er diesmal so tun soll, als wäre er Mitglied einer Selbsthilfegruppe. „Sie fühlen sich ungerecht behandelt“, sagt Trapp und der junge Mann beginnt: „Wir sitzen alle in einem Boot.“
Die Kartei, der erste Schritt
Aber so ist es natürlich nicht. Wer an einer der renommierten staatlichen Schauspielschulen wie der Ernst-Busch oder der Folkwang-Schule seine Ausbildung absolviert, kann davon ausgehen, dass ihn die Regisseure der großen Theater zumindest bei der Abschlusspremiere begutachten, während die Absolventen der privaten Schulen ihren Weg dorthin, wenn überhaupt, mühsam selbst bahnen müssen. Die Aufnahme in die ZBF-Kartei ist der erste Schritt. Voraussetzung ist eine Schauspielausbildung und ein erfolgreiches Vorsprechen. „Es ist sehr, sehr selten, dass wir jemanden nicht nehmen“, sagt Diana Anders. Darin ähnelt die ZBF den gesetzlichen Krankenkassen: beides keine besonders exklusiven Orte und mit eher begrenzten Möglichkeiten.
„Es geht nach den Gesetzen des Marktes“, sagt Rüdiger List. „Man darf nicht mit der Illusion kommen, dass einem grundsätzlich geholfen werden kann.“ Er sagt noch mehr dieser nüchternen Sätze, die daran erinnern, dass die ZBF zur Agentur für Arbeit gehört, dass sie eine Behörde ist, auch wenn die meisten Mitarbeiter lange am Theater waren. „Es ist“, sagt List, „als ob man eine Leber prüft: Texterfassung, Präsenz, Umsetzungsgrad.“
Aber er prüft eben keine Leber und er hat auch nicht den Blick eines Schlachters auf das Kalb. List hat 20 Jahre als freier Regisseur gearbeitet und geblieben ist ihm die Haltung eines Geburtshelfers. Deswegen sagt er zu dem jungen Mann, als der noch ein Lied vorgesungen hat: „Singen Sie lieber nicht so etwas Schweres wie den Jacques Brel, es gibt vielleicht 17 Leute, die das wirklich können. Singen Sie lieber ein Volkslied“, deswegen empfiehlt er, sprachlich an den Rollen zu arbeiten und deswegen ermuntert er ihn, „Muskeln“ zu zeigen. „Sie müssen ins Repertoire der Spielpläne passen“, mahnt Diana Anders.
Zum Schluss soll der Kandidat selbst einschätzen, „was gerade passiert ist“, so nennt es Trapp. „Oh je“, sagt der junge Mann. „Ich war nicht ganz dran. Aber es macht Spaß, wenn man anfangen kann zu arbeiten.“ Und dann sagt er noch, dass die Mitarbeiter der ZBF-Generalagentur in Köln ja etwas ganz anderes zu ihm gesagt hätten. „Aber Hamburg ist mir sympathischer. Ich pass‘ mich hier an.“
Aber selbst wenn er sich anpasst, den Brel mit den Volksliedern tauscht, die deutsche Klassik einstudiert und das Glück hat, für ein Vorsprechen vorgeschlagen zu werden – wie groß ist die Chance, zu einer Rolle zu kommen? „Jede Begabung findet ihre Antwort“, sagt Rüdiger List. „Es fällt mir auf, dass Talente letztendlich den Weg finden, wo sie sich ausdrücken können.“ Auch Diana Anders klingt optimistisch: „Trotz aller Jammerei: Unser Stadttheatersystem ist immer noch ganz gut bestückt.“
Zwar sei seit der Einführung von Hartz IV der Anteil an Sozialberatungen gestiegen, doch für die Gewährung von Zusatzleistungen, wie die Erstattung von Fahrtkosten bei Vorsprechterminen, sind andere zuständig. List ist bewusst, dass viele der Menschen, die in seiner Kartei erfasst sind, sich jahrelang mit Aushilfsjobs über Wasser halten. „So lange man es aushält“, sagt er. Aber ebenso klar ist, dass die soziale Situation der Schauspieler und Schauspielerinnen kein Kriterium für die Theater ist – und daher auch keines für die Leute bei der ZBF.
Gegen Mittag kommt der letzte Kandidat, der ein bisschen übernächtigt wirkt. „Ich bin ehrlich“, sagt er. „Ich habe gerade einen Durchhänger.“ Und dann erzählt er von der Regisseurin, die ihm eine Rolle zugesichert hatte, eine gute Rolle, bis sie mit ihrem ehemaligen Freund wieder zusammenkam. Und davon, wie er selbst danach beschloss, in Salzburg eine Tanzschule zu gründen. Die, sagt er, hätte ihn gut ernähren können, aber dann habe ihn die Sehnsucht nach dem Theater gepackt.
Man hat nur einen Schuss
Er spielt einen Monolog von Handke und dann den Bürgersohn Brackenburg aus Goethes Egmont. Der Handke gefällt dem Publikum, nicht aber der Bürgersohn. „Brackenburg ist ein Mann, kein Wrack“, sagt Diana Anders streng. „Sie gehen der Figur noch nicht in ihrem ganzen Unglück nach“. Rüdiger List setzt nach, dass man die Klassiker nicht in Turnschuhen spielen dürfe. „Da sieht man, wie sehr man den Requisiten ausgeliefert ist.“ Er wird ein bisschen grundsätzlich: „Man muss sich klarmachen, dass man nur einen Schuss hat. Der Markt ist so etwas von voll – da geht es nicht mit Schrot.“ Der Kandidat sagt wenig, man denkt, dass er gleich die Fassung verliert und weint, aber vielleicht ist es auch nur die Übernächtigung. Trapp sagt, was er zu allen dreien gesagt hat: Er könne es sich mit ihm vorstellen, aber es stünden noch andere Vorsprechen aus.
Dann steht er mit Rüdiger List auf dem Flur, der in seiner Kargheit mehr nach Behörde als nach Kunstraum aussieht. „Es ist ganz furchtbar, wenn man sympathische Leute verliert“, sagt List. „Sie werden lachen, der Letzte hat mir am besten gefallen.“ „Mir wäre am liebsten, er käme am Freitag noch einmal zum Vorsprechen“, meint Trapp. „Dann ist der Mann gerettet“, ruft List, öffnet das Fenster im vierten Stock und brüllt dem Kandidaten hinterher.