: AMERICAN PIEBanges Warten auf den Sturm
Lang, lang ist’s her. So lang, dass die Bilder noch schwarz-weiß sind und nicht nur deshalb unwirklich wirken. Bilder wie die von Glenn Hall, dem Torhüter, der ohne martialische Gesichtsmaske aufs Eis ging, aber trotzdem kein Spiel verpasste. Oder die Fotos von Bobby Hull, der den linken Flügel entlangflitzt, das leuchtende Blondhaar noch nicht von einem Helm bedeckt.
Lang ist’s her, 49 Jahre genau, dass die Chicago Blackhawks zum letzten Mal den Stanley Cup gewannen. Die Legende Bobby Hull war eben 22 Jahre alt geworden und Glenn Hall musste sich vor jedem Spiel vor Aufregung übergeben. Kann gut sein, dass heute Abend in Philadelphia auch dem einen oder anderen Blackhawk die letzte Mahlzeit hochkommt: Schließlich haben sie die Möglichkeit, die schier endlose Titel-Baisse zu beenden. Chicago führt die Endspielserie gegen die Philadelphia Flyers mit 3:2 Siegen an und braucht nur noch einen Erfolg. Seit 1961, so lange wie kein anderes Team in der Geschichte der National Hockey League (NHL), wartet Chicago nun schon auf den Cup-Gewinn. Der letzte datiert noch aus einer Zeit, als die NHL aus nur sechs Teams bestand. In dieser Ära der sogenannten Original Six verdienten die Spieler wenig, weshalb sie im Sommer meist in ihre bürgerlichen Berufe zurückkehrten. Die allermeisten Profis waren Kanadier, und Helme waren verpönt. Bobby Hull und der sogar noch zwei Jahre jüngere Stan Mikita waren die Stars der Blackhawks. Heute sind die Spieler Millionäre und kommen aus aller Welt. Eins aber verbindet die Blackhawks von 1961 mit denen von heute: Auch die aktuellen Leistungsträger sind zwei junge Stürmer, Jonathan Toews (22) und Patrick Kane (21), mit deren Hilfe die Blackhawks versuchen, das alte Diktum zu widerlegen, nach dem man mit Offensive zwar Spiele gewinnen kann, Meisterschaften aber nur mit solider Verteidigung. Doch gerade da haben die jungen Blackhawks ihre Probleme, vor allem ihr Torhüter Antti Niemi macht bisweilen einen unsicheren Eindruck. Der 26-jährige Finne musste in in den Playoffs bislang aber auch nicht überragend agieren, weil Chicago reichlich Tore schoss. Während NHL-Finalspiele gewöhnlich von Rückwärtsverteidigung und Vorsicht geprägt sind, wird dem Publikum diesmal zwar kein fehlerfreies Eishockey, aber dafür gute Unterhaltung geboten, so am vergangenen Sonntag, als die Blackhawks beim überzeugenden 7:4-Heimerfolg die Flyers geradezu überrannten.
Es war allerdings das erste eindeutige Spiel der Serie, die ersten vier waren spannend bis zur letzten Sekunde. Das ist einer von vielen Gründen, warum bei den Blackhawks kaum jemand wagt, bereits ernsthaft an den Titelgewinn zu glauben. Seit dem letzten Titelgewinn 1961 hat man fünf Mal das Finale erreicht – und fünf Mal, zum Teil unter dramatischen Umständen, verloren. Die Begeisterung in der Stadt ist trotzdem riesengroß. Der Angreifer John Madden versucht deshalb die Gemüter zu beruhigen. „Wir müssen noch ein Spiel gewinnen, dann ist alles gut.“ Dann hat das Warten endlich ein Ende. THOMAS WINKLER