: Leidensdruck der Ärzte wächst
Nach zwölf Wochen Streik sind viele Klinikärzte frustriert. Dennoch wird nachgelegt: In Freiburg, Ulm und Heidelberg wird nur versorgt, wer gar nicht mehr laufen kann
BERLIN taz ■ Weh soll es tun. Ab heute gilt in der Freiburger Uniklinik die Parole „Totalschließung“. Das heißt: krebskranke Kinder, Frauen kurz vor der Entbindung und Opfer schwerer Unfälle werden weiter versorgt, aber alle anderen Patienten gleich in der Aufnahme an andere Krankenhäuser verwiesen. Auch in Ulm und Heidelberg verlegen die streikenden Ärzte alle, die noch laufen können. „Keiner von uns ist begeistert zu streiken“, sagt ein Mitglied des Freiburger Streikkomitees. Aber nur wenn man den Druck auf die Kliniken erhöhe, stiegen die Chancen auf ein Ende des Streiks.
Seit zwölf Wochen sind die Ärzte an den Uni-Krankenhäusern im Ausstand. Mit der Dauer des Streiks wächst die Frustration der Ärzte, erhöhen sich die Erlösausfälle der Kliniken – rund 300.000 Euro pro Tag – und steigt der Druck auf die Landesfinanzminister, sich mit den Ärzten zu einigen, die einen eigenen Tarifvertrag fordern. Einer aber bleibt bisher hart: Hartmut Möllring, Niedersachsens Finanzminister und Chef der Tarifgemeinschaft der Länder TdL. Gestern kamen die 14 Mitglieder des Arbeitgeberclubs zusammen, um zu beraten, wie und ob sie weiter mit der Ärztegewerkschaft Marburger Bund verhandeln. Möllring kündigte im Anschluss Telefonate mit dem Ver.di-Vorsitzenden Frank Bsirske und dem Chef des Marburger Bundes Ulrich Montgomery an. Er könne aber nicht verstehen, warum der Marburger Bund den Ver.di-Abschluss so „geißele“. Die TdL-Spitze drängt die Ärzte, den Vertrag zu übernehmen, den Länder und die Gewerkschaft Ver.di für alle Beschäftigten des öffentlichen Dienstes unterzeichnet haben.
Die Ärzte aber akzeptieren Ver.di nicht als Vertretung. „Es geht gar nicht so sehr ums Gehalt“, meint Thomas Neumann, Assistenzarzt in Jena. „Die Ver.di-Tabellen sind ganz in Ordnung, aber es gibt in diesem Tarifvertrag keine konkreten Regelungen für Forschung und Lehre.“ Diese zusätzlichen Verpflichtungen eines Universitätsmediziners erledige er zurzeit in der Freizeit. Im Ver.di-Tarifvertrag sind für einen Assistenzarzt, der im Osten arbeitet, im ersten Jahr zwar auskömmliche 3.200 Euro brutto pro Monat vorgesehen, aber nur drei Tage pro Jahr für Forschungszwecke.
Oberarzt Ralf Schmidt, ebenfalls aus Jena, stören vor allem die Gehaltsunterschiede zwischen Ost und West. Im Westen bekommt zum Beispiel ein Assistenzarzt 400 Euro mehr im ersten Jahr. Schmidt sieht eine Ärztewanderung von Ost nach West voraus. Heute wird er im OP stehen, nächste Woche jedoch wieder streiken. „Das ist jetzt eine historische Chance, die verloren geht, wenn wir einfach den Ver.di-Tarifvertrag übernehmen.“ Eine Räumung der Kliniken wie im Süden kommt für ihn aber nicht in Betracht. „Man kann sich doch nicht einfach so vor den Patienten verdrücken“, meint Schmidt.
Und so streiken die Ärzte in Thüringen ein bisschen weiter, vereint in ihrer Empörung über den CDU-Politiker Möllring. Auch in Leipzig werden in der nächsten Woche wieder rund 100 von über 450 Ärzten die Arbeit niederlegen. „Wir erwarten durch die WM mehr Patienten, und allein dadurch verschärft sich die Lage“, prognostiziert Assistenzärztin Cordula Röhm. Allerdings: „Zum Wave-Gothic-Treffen waren etwa 20.000 Leute mehr in der Stadt, und es hat keinen gestört, dass wir gestreikt haben.“ Dass nicht noch mehr Leipziger Ärzte streiken, liege an Notdienstplänen und unterschiedlichen Arbeitsverträgen.
Es gibt aber auch ganz individuelle Gründe, nicht zu streiken. Die Ärzte bekommen die Folgen des Streiks jetzt zu spüren. Statt der geforderten 30 Prozent mehr Gehalt haben viele zum Ende des Monats 50 Prozent weniger auf dem Konto, weil der Marburger Bund in Sachsen und anderen Ländern keine Streikkasse hat. Dadurch steigen der Leidensdruck in der Ärzteschaft und die Hoffnung auf eine baldige Lösung. „Einige sind sehr frustriert über das Ergebnis von zwölf Wochen Streik und wissen nicht, wo das hinführen soll“, berichtet Röhm. ANNA LEHMANN