: Im Sonderwartebereich der Geschichte
WILLY BRANDT Jakob Wursters Stück „Willy100“ im Neuen Stadthaus stößt das Denkmal der SPD vom Sockel und findet einen taumelnden Jungen, der vor der Polizei zittert
VON ANNA KLÖPPER
Und plötzlich, ganz unversehens, ist man selbst Mitläufer: „Zugangsberechtigungsvorkontrolle“, herrscht die junge Frau das Publikum auf halber Treppe zum Otto-Suhr-Saal im Neuen Stadthaus an der Klosterstraße an. „Sie gehen weiter, Sie alle warten bitte dort.“ Ein kurzes Innehalten, ein halbe Sekunde des Zögerns, die Menge teilt sich folgsam, dann fällt der Groschen: Ah, klar, die Frau ist eine vom Ensemble, alles nur Performance, alles bloß Spaß. Es fühlt sich trotzdem nicht so richtig gut an, im „Sonderwartebereich“ auf dem Treppenabsatz, aber natürlich spielt man mit. Man wartet, stumm. Dann ist die Treppe wieder frei – und der erste Teil des Theaterabends „Willy100 – Im Zweifel für die Freiheit“ hat seine beabsichtigte Wirkung nicht verfehlt: Etwas zögerlich kommen die Gespräche wieder in Gang.
Das Stück von Regisseur Johann Jakob Wurster, das am Donnerstagabend Premiere hatte, ist ein weiterer Hofknicks vor der SPD-Ikone Willy Brandt in seinem Jubiläumsjahr: ARD und Arte gratulierten kürzlich mit einer opulenten Doku, das Deutsche Theater hat ein Stück über die Guillaume-Affäre im Programm, und in der SPD-Zentrale huldigt eine Fotoausstellung dem Übervater der Partei. Natürlich plauderte sich auch Brandt-Intimus Egon Bahr bereits durch alle öffentlich-rechtlichen Kanäle, und Brandts ältester Sohn Peter fügte den Biografien über seinen Vater eine weitere hinzu.
Jetzt also auch noch „Willy 100“. Oder besser: zum Glück. Denn Wurster gelingt mit seiner schnell geschnittenen Collage – innere Monologe Brandts wechseln sich ab mit authentischen Zitatschnipseln, atemlosen Dialogen und Gesang (Swing!) – über den jungen Brandt in Berlin 1936, etwas Ungewöhnliches. Man vergisst ganz einfach mal die nebulöse, unbegreifliche Ikone, die, von allen Seiten ausgeleuchtet und dokumentiert, im Nebel der eigenen Geschichte thront. Und spürt, zumindest möchte man es glauben – einen Menschen.
Das hat Wurster vor allem seinem Hauptdarsteller Lorris André Blazejewski zu verdanken. Der 27-Jährige, der noch im letzten Jahr seiner Schauspielausbildung ist, spielt einen taumelnden, einen unsicheren Brandt. Einen jungenhaften 22-Jährigen, dem die Hände zittern, wenn er sich im Zug, „zehn Stunden vor Berlin“, die Zigarette anzündet. Einen, der vor Angst fast verrückt wird („klein wie ein Insekt fühle ich mich“), als man ihm auf dem Polizeirevier übers Wochenende den Pass „zur Kontrolle“ abnimmt: Im Oktober 1936 war Brandt, Mitglied der Sozialistischen Arbeiterpartei, mit falschem Pass, falschem Akzent und dem Auftrag, die Reste der deutschen Sozialdemokratie im Untergrund zu reorganisieren, aus dem Osloer Exil nach Berlin eingereist.
Blazejewski spielt den Überlebensgroßen mit wunderbar unbedarfter Respektlosigkeit: Er imitiert nicht den Brandt, der im öffentlichen Gedächtnis festgehalten ist. Sondern einen, der Angst hat auf dem Polizeirevier und dem die Hände zittern. Wurster lässt seinen Hauptdarsteller das Denkmal vom Sockel stoßen. Das ist klug, denn so wird Brandt gleich noch mal ein Stückchen größer: Wäre man selbst, als Mensch mit unguten Gefühlen im „Sonderwartebereich“, ebenfalls „Im Zweifel für die Freiheit“ mit gefälschtem Pass aus dem sicheren Exil nach Deutschland eingereist? Und das 1936, mit den Nazis auf dem Höhepunkt ihrer Macht? Vielleicht. Vielleicht auch nicht.
Ein wenig ratlos zurück lässt einen die Frage, ob die manchmal ins komödiantische abdriftenden Dialoge dem Stück unbedingt guttun. Die Gefahr der moralinsauren Schwere ist zwar gebannt, das Publikum lacht befreit, und natürlich hat so eine bekloppte Nazibehörde auch reichlich Potenzial zum Absurden. Aber es nimmt eben auch eine gewisse Wucht aus dem eindrücklichen Spiel Blazejewskis, von der man sich eigentlich ganz gerne forttragen lässt, weg von Willy Brandt, dem Großen. Und also wieder zu ihm hin.
■ „Willy100 – Im Zweifel für die Freiheit“. Noch bis 15. Januar im Otto-Suhr-Saal des Neuen Stadthauses Berlin. Dienstags bis samstags 19.30 Uhr, sonntags 17 Uhr. Karten: ab 18 Euro