: „Bekennende Feministinnen haben nach wie vor kaum Chancen“
DIE FRAUENFORSCHERIN Geschichte braucht keine HeldInnen, sagt Claudia von Gélieu: Die Stadtführerin und Gründerin von „Frauentouren“ erforscht das Leben unbekannter Berlinerinnen. Deren Alltagsgeschichten sollen Mut machen, sagt die Politikwissen-schaftlerin – auch Frauen, die heute Minijobs machen oder sonst prekär leben
■ Geboren 1960 als Claudia Faulstich in einem traditionellen und katholischen Elternhaus im Landkreis Fulda, ging das älteste von vier Kindern nach dem Abitur 1979 nach Westberlin und studierte am OSI Politikwissenschaft. Schon vorher wurde sie Mitglied bei den Jusos und war bis Ende der 80er Jahre aktiv in der SPD.
■ Seit 1990 ist sie aktiv in der Neuköllner Galerie Olga Benario, einem von der Vereinigung für die Verfolgten des Naziregimes (VVN) gegründeten linken Veranstaltungsort. Seit 5. Dezember läuft dort die neue Ausstellung mit Begleitprogramm „An den Grenzen – Lampedusa und die europäische Flüchtlingspolitik“. Mehr Infos unter: www.galerie-olga-benario.de
■ Ebenfalls 1990 gründete Gélieu zusammen mit der Historikerin Beate Neubauer „Frauentouren“, einen Verbund von freiberuflich zur Frauengeschichte arbeitenden Frauen. Schwerpunkt der Arbeit sind Stadtführungen zu frauenhistorischen Themen. Im Angebot hat Frauentouren aber auch Reisen, Vorträge, Lesungen, Seminare und Publikationen. Gélieu hat selbst mehr als zehn Bücher geschrieben und bekam 2001 den Berliner Frauenpreis. Mehr Infos unter: www.frauentouren.de
■ Claudia von Gélieu ist verheiratet und lebt im Frauenviertel in Rudow. (sug)
INTERVIEW SUSANNE MEMARNIA FOTOS WOLFGANG BORRS
taz: Frau Gélieu, welche Frau in der Berliner Geschichte ist für Sie die spannendste?
Claudia von Gélieu: Eine Frau, zu der ich sehr intensiv gearbeitet habe, ist Emma Ihrer. Ich habe sie die Initiatorin der Arbeiterinnenbewegung genannt. Damit verbinden die meisten Clara Zetkin. Aber Die Gleichheit, die Zeitung der Sozialistinnen, hat nicht Zetkin, sondern Emma Ihrer aufgebaut. Und sie hat dafür gesorgt, dass Zetkin als Alleinerziehende mit zwei Kindern eine Stelle als Redakteurin bekam. Das war typisch für Ihrer: andere Frauen einzubinden und ihnen zu helfen. Solche Beispiele machen Geschichte interessant – nicht Berühmtheiten.
Was haben Sie gegen Berühmtheiten?
Mir geht’s um den Alltag – und wie Frauen gemeinsam versucht haben, politisch etwas zu verändern. Die Frauenbewegung war, auch auf der bürgerlichen Seite, immer eine breite Bewegung. Außerdem ist Geschichte so auch ermutigender für heutige Frauen: Wer traut sich schon zu, eine zweite Clara Zetkin oder Rosa Luxemburg zu werden? Für mich heißt Frauengeschichte nicht, neben die männlichen Helden berühmte Frauen auf den Sockel zu heben. Geschichte wird von allen Menschen und überall gemacht.
Und welches Berliner Ereignis ohne Berühmtheiten finden Sie besonders spannend?
Den Frauenprotest in der Rosenstraße 1943. Der ist interessant, nicht nur weil es eine erfolgreiche Widerstandsgeschichte aus der NS-Zeit ist, sondern auch, weil er nichts Organisiertes war. Die Frauen sind einfach losgegangen, als ihre jüdischen Angehörigen nicht nach Hause kamen. Sie haben herausbekommen, wohin sie gebracht wurden, und dort ausgeharrt, bis sie freigelassen wurden. Wenn ich das bei meinen Stadtführungen am Denkmal in der Rosenstraße erzähle, sage ich immer: Dieses Beispiel zeigt: Statt auf andere zu warten, muss man einfach losgehen, wenn man etwas ändern möchte.
In den Führungen bei „Frauentouren“ und in Ihren Büchern geht es oft um völlig unbekannte Lokalgeschichten. Wie finden Sie die?
Zum Beispiel in Archiven, was allerdings relativ schwierig ist, weil es dort nur selten Suchmöglichkeiten nach Frauen gibt. Und man kann alte Adressbücher wälzen. Bürgerliche Frauen haben auch relativ viel veröffentlicht – Memoiren, Tagebücher, Korrespondenz oder Dokumentationen ihrer Arbeit. Ganz vorbildlich ist da Lina Morgenstern, die für Berlin das bürgerliche Pendant zu Emma Ihrer war. Sie war in allen möglichen Bereichen von Kindergärten bis Friedensbewegung aktiv. 1893 hat sie – wie Emma Ihrer – einen Überblick gegeben über die deutsche Frauenbewegung, ihre Projekte, Initiativen und Gruppen. Grund für diese Dokumentationen war die Weltausstellung in Chicago: Die US-Frauenbewegung hatte durchgesetzt, dass es dort einen Frauenpavillon geben sollte. Ganz wichtig für unsere Arbeit bei Frauentouren ist auch die neue Frauenbewegung, die sich seit Anfang der 1970er Jahre auf die Spurensuche nach Vorkämpferinnen gemacht hat. Und inzwischen gibt es such universitäre Frauenforschung. In den Arbeiten anderer gibt es aber selten Ortsangaben. Aufzuarbeiten und zu zeigen, wo Frauen in Berlin gelebt und gewirkt haben – das ist der Beitrag von Frauentouren.
Das gerade stelle ich mir schwierig vor.
Ja, vieles geschieht auf Umwegen. Zu Lankwitz etwa habe ich eine interessante Geschichte gefunden: Dort haben sich im 19. Jahrhundert einige Frauen mit einer Pension für psychisch Kranke selbstständig gemacht. Die Qualifikation dafür haben sie in der Nervenheilanstalt für Frauen in Zehlendorf erworben. Und auf die bin ich gestoßen, weil zu den Pflegerinnen auch Elisabeth von Ardenne gehörte, das Vorbild für Fontanes berühmten Roman „Effi Briest“. Damals gab es nicht viele Berufsmöglichkeiten für bürgerliche Frauen – dennoch waren fast alle Frauen immer irgendwie erwerbstätig. Durch die Fixierung auf einen an Männern orientierten Arbeitsbegriff wird das bis heute nicht wahrgenommen. Neben der unbezahlten Reproduktionsarbeit für die eigene Familie haben viele Frauen Zimmer untervermietet, für Pensionäre gewaschen und gekocht und so Geld verdient. Darum geht es mir: Geschichten auszugraben – für Frauen, die heute im Verborgenen arbeiten, die Minijobs machen, illegalisiert sind oder sonst wie prekär leben.
Über die historische Bedeutung von Frauen wird in Berlin auch bei Straßenumbenennungen immer wieder gestritten. Finden Sie es richtig, nur noch Frauennamen zu nehmen, bis die Quote bei den Straßen stimmt?
Auf jeden Fall. Wie soll ein anderes historisches Bewusstsein entstehen, wenn im öffentlichen Raum nicht deutlich wird, dass es Frauen gibt, die etwas wichtiges gemacht haben? Wenn überall nur Männerstatuen und -denkmäler stehen, wird immer weiter tradiert, dass Geschichte nur von Männern gemacht wird. Und dann fragt man: Wieso sollen Frauen das heute auf einmal können? Sie haben das doch nie gekonnt. Dem muss etwas entgegengesetzt werden, hier wie in anderen Bereichen! Darum braucht man die Straßennamenquote.
Aber dann passiert es, dass man keinen Platz nach Moses Mendelssohn benennen darf, wie es dieses Jahr beim neuen Platz vor der Jüdischen Akademie diskutiert wurde. Da musste man seine Frau Fromet Mendelssohn mit in den Namen aufnehmen!
Man hätte Moses Mendelssohn seit 200 Jahren ehren können. Und jetzt sind auf einmal die Feministinnen daran schuld, dass er nicht mit einer Straße geehrt wird? Das ist absurd. Natürlich kann Mendelssohn als jüdischer Aufklärungsphilosoph nicht genug genannt und geehrt werden. Aber es ist doch ein Armutszeugnis, dass die Bezirksverordnetenversammlung Friedrichshain-Kreuzberg mit ihrem eigenen Vorschlag für den Platz sofort einen Rückzieher gemacht hat, als Mendelssohn ins Spiel kam. Die erste Idee war Regina Jonas, sie war weltweit die erste Rabbinerin. Wenn das kein geeigneter Namensvorschlag für einen Platz am Jüdischen Museum ist! Fromet Mendelssohn ist zwar auch nicht unwichtig: Sie war an der Arbeit ihres Mannes durchaus beteiligt – wie meist bei berühmten Männern. Aber natürlich finden es jetzt alle lächerlich, dass die Ehefrau im Namen mitgenannt ist.
Wie kam es eigentlich zu Ihrem Interesse an Frauen in der Geschichte?
Über die politische Arbeit. Meine ersten Stadtführungen habe ich zu Antifathemen gemacht. Ich habe beim Landesjugendring mitgearbeitet, die machten Stadtführungen zum Thema Faschismus. Frauen kamen da eigentlich nicht vor. Aber es gab gewisse Freiräume, die wir füllen konnten. Zum Beispiel wurden beim Besuch der Gedenkstätte Plötzensee Biografien vorgestellt – da habe ich über Lilo Herrmann gesprochen, eine kommunistische Widerstandskämpferin, die dort als erste von den Nazis hingerichtet wurde. Bei mir sind so immer mehr Fragen entstanden: Wie haben Frauen damals gelebt, warum sind die einen in den Widerstand gegangen, haben andere begeistert Hitler zugejubelt? Und was war mit den Frauen vor 1933 und nach 1945? Ich habe dann 1988 zum Internationalen Frauentag erstmals eine Stadtrundfahrt zum Thema angeboten. Die Resonanz darauf war groß, die Nachfrage wuchs immer weiter, und „Frauentouren“ ist entstanden.
Spielte das Thema Männer und Frauen in Ihrem Elternhaus eine Rolle?
Überhaupt nicht. Ich komme aus einem winzigen Dorf mit 150 Einwohnern in der hessischen Rhön, Landkreis Fulda, sehr katholisch und sehr CDU-geprägt. Meine Eltern haben traditionell gelebt, mein Vater war Landschaftsgärtner und Bauer, meine Mutter hat sich um die vier Kinder und mit um den Hof gekümmert. Im Dorf war ich das erste Mädchen, das Abitur gemacht und studiert hat. Meine Mutter war eigentlich dagegen, weil ich noch drei jüngere Brüder hatte. Wenn überhaupt jemand studieren sollte, dann einer von ihnen. Unterstützung bekam ich von meinem Vater. Meine Ausbildung verdanke ich ganz klar der Bildungsreform der 60er Jahre: Wenn das noch Schulgeld gekostet hätte oder Fahrgeld, wäre daraus nichts geworden.
Haben Sie das Ihrer Mutter übel genommen?
Unser Verhältnis war nie das Beste. Das liegt auch daran, dass ich sehr früh politisiert wurde gegen den bei uns herrschenden Katholizismus. Zwei Tanten und eine Großtante von mir waren Nonnen, was damals fast der einzige Weg war, um als Frau rauszukommen aus dem Dorf. Sie lebten als Missionarinnen in Afrika, und ich bin mit Erzählungen über die tollen „Neger“ aufgewachsen. Es wurde auch immer Geld gesammelt für die „Negerkinder“. Aber als ich zehn war und eine meiner Cousinen einen G.I. mit nach Hause brachte, der schwarz war, bekam sie nur negative Reaktionen von der Familie. Ich verstand die Welt nicht mehr! Außerdem fand ich Larry, den G.I., selbst klasse: er brachte Süßigkeiten mit, ich konnte mein erstes Englisch mit ihm ausprobieren. Wegen dieser Scheinheiligkeit, die ich in meiner Familie erlebt habe, bin ich von dem Tag an nicht mehr in die Kirche gegangen. Das war der große Konflikt mit meiner Großmutter und meiner Mutter.
Wie ging es weiter mit Ihrer Politisierung?
Über einige Ältere kam ich zu den Jusos, und wir haben für Jugendliche Discos und Filmabende gemacht und uns sogar in die Kommunalpolitik eingemischt. Auf dem Dorf galten wir damit schon als Kommunisten. Eine hat zu mir gesagt, ich wäre eine zweite Rosa Luxemburg.
Sie sind 1979 nach Berlin gegangen und haben am OSI Politikwissenschaft studiert. War das der ersehnte Hort für eine revolutionär gestimmte Junglinke aus der Provinz?
Mir war das gar nicht so bewusst, was das legendäre OSI ist. Ich glaube, auch die Studentenbewegung und 68 sagten mir nicht viel. Aber Politikwissenschaft war ein Fach, das mir die Berufswahl noch etwas offen ließ. Und: Westberlin war weit weg von Fulda und hatte mir bei zwei Besuchen gut gefallen.
Sie sind dann Mitglied bei der VVN geworden, der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes. Wie kam das?
Über die Antifa-Stadtrundfahrten vom Landesjugendring. Sie wurden Ende der 70er entwickelt für Jugendliche, weil es immer mehr Neonazis gab. Es gab also offensichtlich einen Bedarf an Aufklärungsarbeit über die Nazi-Zeit. Bei den Stadtrundfahrten sind Zeitzeugen mitgefahren, und zwei von denen waren bei der VVN. Die öffnete sich damals für junge Leute, um ihre Arbeit weiter zu tragen – schließlich wurden die Überlebenden immer älter.
War die erstarkte Nazi-Szene auch ein Grund für die VVN, 1984 die Galerie Olga Benario zu gründen? Sie machen hier ja bis heute viele Ausstellungen zu Antifa-Themen.
Die Jungen in der VVN haben überlegt, was sie machen können, um andere junge Leute anzusprechen – daraus wurde die Galerie.
Wenn man das Programm liest, klingt es, mit Verlaub, etwas verstaubt: Zuletzt ging es bei Ihnen um 40 Jahre Putsch in Chile. Was ist das Konzept?
Von unseren Wurzeln her geht es schon immer wieder um Faschismus, seine Geschichte und Aufarbeitung. Chile war ja auch ein faschistischer Putsch. Aber in den begleitenden Veranstaltungen haben wir auch viel zu den aktuellen Entwicklungen in Chile gemacht, den Studenten- und Bildungsprotesten. Es geht für uns immer um die Verknüpfung von Geschichte und Gegenwart. Und wir machen auch nicht nur historische Ausstellungen – in der aktuellen geht es um Lampedusa und die europäische Flüchtlingspolitik. Die Galeriearbeit ist aber für mich auch deshalb spannend, weil sich hier alle möglichen Linken treffen. Gerade heute braucht man einen solchen offenen Raum für die politische Basisarbeit. Wer etwas ändern will, kann auch in eine Partei gehen – aber für mich ist das nicht mehr der Weg.
Das war mal anders, oder?
Ja, aber 1990 bin ich aus der SPD ausgetreten. Damals in der Wendezeit wurde viel zu wenig diskutiert über das, was grade passierte. Stattdessen wurde die Partei zu einem reinen bürokratischen Vollzugsorgan für den Anschluss der DDR. Das war nicht mehr meins.
Macht es die SPD für Sie sympathischer, wenn sie jetzt wieder mit einer Kanzlerin zusammen regiert? Dann ist doch wenigstens eine Frau an der Spitze.
Das sehe ich nicht so. Ich habe nichts gegen Frauenkarrieren, aber Frau Merkel ist das beste Beispiel dafür, dass sich alleine dadurch frauenpolitisch nichts verändert. Karrierefrauen sind nicht automatisch Feministinnen. Im Gegenteil, bekennende Feministinnen haben nach wie vor kaum Chancen, irgendwo an die Spitze zu kommen. Denn an den strukturellen Ungleichgewichten hat sich nichts geändert.