: Gemütlich verkorkst sein
Schriften zu Zeitschriften: „Du ist Deutschland“, behauptet die Kulturzeitschrift „du“
Oh Gott, wer sind wir bloß? Das Land der Ideen? Matthias Matussek seine schöne Heimat? Oder gar jene Freunde, bei denen die Welt jetzt zu Gast ist? Da gibt es also allerlei Möglichkeiten zur nationalen Selbstfindung. Und nun kommt auch noch die Schweizer Kulturzeitschrift du und behauptet in ihrer Juni-Ausgabe: „du ist Deutschland“.
Es gebe drei Gründe, schreibt du-Redakteur Andreas Nentwich im Editorial, sich einmal dem Nachbarland zu widmen: „Seine sympathische Verzagtheit vor den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts, die Fußball-WM und unsere Hybris“. Schon auf dem Titelblatt blickt einem das schicksalsergebene, aber doch entschlossene Gesicht eines – man weiß es nicht so genau zu sagen: vielleicht eines Melkers oder Landarbeiters im verspeckten Blaumann entgegen. Einen fröhlichen Eindruck macht er nicht gerade, aber in seinen schweren schwarzen Gummistiefeln scheint er fest mit dem Kopfsteinpflaster unter sich verwurzelt zu sein.
So ist es auch bei all den anderen von dem Leipziger Fotografen Albrecht Tübke auf langen Fotostrecken porträtierten deutschen Männern, Frauen und Jugendlichen: Ein bisschen stemmen sie alle die Beine in den Boden, halten die Arme seitlich am Körper, während die Nase immer nach vorn weist – so als würden sich die Abgelichteten einen Moment lang einmal ganz auf das konzentrieren, was ihnen der Fotograf vielleicht vorher im Hinknien noch zugerufen hat: „So, und jetzt stellt euch mal vor, ihr seid einfach nur da.“ Einen Wimpernschlag lang steht jeder von ihnen fest wie eine Eiche.
Die ganze Phalanx der studierten Schriftsteller und Publizisten, Jahrgang 1970 und drumherum, tun sich da in ihren kleinen Heimatskizzen offenkundig schwerer. Lässt man das ganze 20. Jahrhundert mit seiner Geschichte einmal beiseite und will einen Blick auf das Typische in seiner ganzen Breite riskieren, auf die Phänomene jenseits der Metropolen – was bleibt einem da noch anderes als der retrospektive Blick auf die Provinz, die man eigentlich längst hinter sich gelassen hat: jenes rätselhaft zeitlose, ewige Deutschland, wo die Leute anscheinend immer unverdrossen weiter so vor sich hin werkeln.
Dieser Blick auf da draußen ist ein kindlich-phänomenologischer, ein distanzierend aufzählender geblieben: „Eigene Brauerei, eigene Kornbrennerei, fünf Burgen, zweitausend Fachwerkhäuser, ein Max-Planck-Institut für Fließgewässerforschung“. Doch die interessante Scham, ausgerechnet aus einem mittelhessischen Städtchen namens Schlitz zu stammen, dürfte für Florian Illies eine peinliche Dreingabe späterer Jahre gewesen sein. Was einem das Land in seiner banalen Gegenwart zu sagen hat, lässt sich ohnehin in ein bis drei Buchstaben zusammenfassen, nämlich in der Autonummer des Heimatkreises. Die Schriftstellerin Jana Scherer versucht sich am Kennzeichen BI als geistiger Lebensform: „Bielefelder schämen sich ständig für Bielefeld.“ Sie halten ihre Stadt für einen Schandfleck voller Bausünden und bedauern wie alle übrigen Deutschen: „Wir sind nicht leidenschaftlich/humorvoll/locker/großzügig/gefühlvoll.“ Immerhin, für Scherer hütet die deutsche Provinz auch ihre kleinen esoterischen Geheimnisse: „Selbst nach sieben Jahren intensiven Bielefeldstudiums konnte man mich immer noch mit einem Satz wie ‚Der kommt halt aus Brake‘ aus der Fassung bringen.“
Ob Ost, ob West, tief verwurzelt scheint der Konsens der invertierten deutschen Eigenliebe. Richtig gemütlich wird es erst dann, wenn man darauf kommt, wie verkorkst und komisch hierzulande alles ist. „Dem Erfolg misstrauen wie einer ausgeklügelten Verschwörung, die unser Bestes gerissen hintertreibt, die Fähigkeiten, die ihm Pate standen, anklagen, als handele es sich um Mitverschwörer – das zeigt den wahren Meister“, hofft auch der Berliner Soziologe Wolfgang Engler. Um dann im nächsten Satz ein Lamento loszulassen, weil internationale Studien zeigten, dass wir dabei wären, unser komplettes geistiges Zukunftskapital zu verspielen. Nein, niemand hat die Absicht, eine Weltmeisterschaft zu erringen. JAN-HENDRIK WULF
„du“ 767, 12 €