: 90 MINUTEN … IN METTMANN
Kick it like Neanderthal Man
Der berühmteste Mettmanner aller Zeiten geht mit gutem Beispiel voran. „Der Neandertaler hat sich das Trikot der Deutschen übergestreift“, meldet das Anzeigenblättchen Super Tipp Wochenpost am Samstag auf seiner Titelseite unter einem Foto der von fünf Jugendlichen umringten Urmenschenrekonstruktion im Neandertal-Museum. Weiter hinten wird das „Kick it like Neanderthal Man“-T-Shirt beworben, das endlich wieder in allen Größen erhältlich ist – für 9,90 Euro pro Stück.
Der WM-Wahnsinn ist also auch in Mettmann angekommen. Überall Schwarz-Rot-Gold, mit und ohne Bundesadler. Wem das noch nicht reicht, der kann sich im Tattoo-Studio „Black Dragon“ eine Deutschlandflagge stechen lassen. Preis: ab 50 Euro. Doch der Wahnsinn hat Grenzen: Mexiko–Iran zum Beispiel.
18 Uhr. Anpfiff. Im „Türmchen“ am Marktplatz bin ich der einzige Gast, habe eine Großbildleinwand und zwei Fernseher für mich allein. Das „Türmchen“ ist die Kneipe, auf die sich in der Kreisstadt Mettmann, 40.000 Einwohner, zwischen Düsseldorf und Wuppertal gelegen, alle einigen können. Zu Karneval tanzen und schunkeln die Gäste hier auf den Bänken, doch im Februar ist das Wetter auch selten so gut wie an diesem Sonntag. In der elften Spielminute schlurft ein Mittdreißiger auf Flip-Flops in die Kneipe, guckt, wie’s steht und verschwindet nach wenigen Sekunden wieder. Das kann doch noch nicht alles gewesen sein. Zahlen! Aufbruch in der 26. Spielminute. An der Kirche vorbei zum Frankenheim-Brauereiausschank auf dem vom Sechzigerjahrebau der Kreissparkasse erdrückten Jubiläumsplatz. Die Leinwand hier ist kleiner als die im „Türmchen“. Dafür kann man draußen sitzen. Doch längst nicht alle der etwa 30 Terrassengäste interessieren sich für das Spiel. Meine Tischnachbarn erörtern ausführlich das Liebesleben ihres Freundes Heini und kriegen sich dabei in die Haare: „Ich find’s so affig, wie du dich verhältst.“ Tor für Iran!
Die Ehepaare Surowy und Borowski („wie Tim, genau“) gehen jeden Sonntag miteinander im Neanderthal Kaffee trinken und spazieren: „Mit’m Bus hin und zu Fuß zurück.“ Danach auf ein Alt ins Frankenheim. „Abend gegessen wird aber zu Hause“, sagt Frau Surowy. „Da is billiger wie hier.“ Deswegen haben die Männer auch die ersten beiden Spieltage auf der Couch verfolgt. Dort werden sie auch die zweite Halbzeit sehen, während die Frauen kochen. Nein, nein, damit ich das nicht missverstehe – „jede Familie für sich allein.“
In der Halbzeitpause wird der Fernsehton ab- und Robbie Williams aufgedreht. In der ersten Reihe vor der Leinwand sitzt Thomas Frambach, dem in Mettmann mal eine Disco gehörte. Er trägt seine Sonnenbrille im Haar und ein Mexiko-T-Shirt überm Oberkörper. Warum? „Weil ich Fan bin. Ich hab da mal zweieinhalb Wochen Urlaub gemacht. Gefallen haben mir das Land und die Mentalität.“
Das Spiel geht weiter. Zurück auf meinen Platz. Die vier Männer am Nebentisch tragen Trikots der tschechischen Nationalmannschaft. Sie haben Karten für das Spiel gegen die USA ergattert und sind deswegen für zwei Nächte mit dem Auto aus Prag nach Mettmann gekommen. Das 2:1 für Mexiko fällt – wieder durch Bravo. Thomas Frambachs lautstarker Kommentar: „Jawoll!“
Vor der „Taverna“ wenige Meter weiter sitzt der Mettmanner Schreiner Rüdiger Heidenreich mit seiner Frau in der Sonne – Abschluss ihrer Fahrradtour. Dass drinnen Fussball läuft, interessiert sie nicht. Schließlich spielt Deutschland nicht. Überhaupt sei er kein großer Fußballfan, sagt er. Trotzdem: Wer wird Weltmeister? „Über Deutschland würde ich mich freuen, gönne es aber auch einem Außenseiter wie dem Kongo.“ Sagt er, und meint wahrscheinlich Togo. DAVID DENK