: Alte Hasen und neue Debatten
EREIGNISPRODUKTION Wie die Wiener Festwochen erst nur absehbare Hochämter feiern – und dann doch noch das Format des Theaterfestivals aus sich selbst erneuern
VON UWE MATTHEISS
Theater ist das Land alter Männer und ihrer Fantasien. Diesen Eindruck bekräftigen die langen Abende bei den Wiener Festwochen. Robert Lepage rettet in „Lipsynch“, einer neunstündigen moralischen Anstalt, ein armes nicaraguanisches Mädchen vergeblich vom Hamburger Strich. „Lulu“ als Telenovela. Um die „gefallenen griechischen Frauen“ müht sich auch Luc Bondy in „Helena“ von Euripides. Mit Peter Handkes Übersetzung an seiner Seite, der in Wien zur Primadonna erkorenen Birgit Minichmayr und der Creme der deutsch-österreichischen Schauspielkunst führt er noch einmal den Krieg um die Schönheit.
Frank Castorf lotet in seiner „Drei Schwestern“-Bearbeitung „Nach Moskau, nach Moskau“ allerdings nicht nur weibliche Hysterisierungspotenziale aus. Am stumpfen Ende der Geschichte angelangt, entdeckt er die prekarisierten bürgerlichen Intellektuellen als Erben des von Marx und Engels verachteten Lumpenproletariats. Ihr Räsonieren im Stillstand aller Bewegungsmomente von Geschichte entmaterialisiert sich zu reiner emotionaler Energie. Ein Theater, dem in aller Virtuosität die Form schwindet. Castorfs Dialektik gelangt ans Ende der Kunst, ohne dafür ein befreites Leben einzutauschen.
Warum ist das alles so fade? Vielleicht weil Festivals selbst als Präsentationsformate immer mehr infrage geraten. Barocke Ereignisproduktionen sollten sie sein, die dem Theater der Welt einen großen Bahnhof bereiten. Im Zeitalter digitaler Kommunikation und Billigtickets nach überall schwindet diese Aura zusehends.
Das ist das eine Zwischenfazit, das von den diesjährigen Wiener Festwochen zu ziehen wäre. Zum Glück gibt es aber auch noch ein zweites: Bevor das Format des Festivals insgesamt obsolet wird, könnte es sich aus sich selbst erneuern, aus Bereichen, die es bislang als marginale wahrnimmt. Abseits ihrer sinnstiftenden Theaterhochämter waren und sind Festivals immer auch Zonen der Auseinandersetzung mit künstlerischen Positionen jenseits der exportstarken europäischen Literatursprachen und der einfach googlebaren Entitäten, Orte, an denen es möglich ist, sich Fremdem auszusetzen, ohne es sogleich als das Exotische in europäische Bewertungssystem zu konvertieren.
Die Festwochen zeigen da auch zwei Produktionen, die zum Exempel werden, wie es weitergehen könnte, mit den Festivals und zum Teil auch mit dem Theater: „Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt“ der estnischen Theatermacher Tiit Ojasoo und Ene-Liis Semper und „Where were you on January 8th?“ von Amir Reza Koohestani. Der Beitrag aus Tallinn reflektiert über zweieinhalb Stunden in Screwballgeschwindigkeit unter Verwendung des gesamten Registers guten und gut gemachten schlechten Theaters die Bedingungen der Möglichkeit von Kunstproduktion. Koohestanis Abend führt hingegen in die bleierne Zeit iranischer Gegenwart und zeigt einen Wandel der Bedeutung des Begriffs von autonomer Kunst. In Weltgegenden, in denen mediale Öffentlichkeit nach dem Verständnis liberaler Demokratien nicht oder nur defizitär vorhanden ist, gewinnen Kunst und Theater wieder eine Funktion, die sie in den Frühzeiten der bürgerlichen Gesellschaften hatten. Sie werden zu Rückzugsräumen einer aufgestauten politischen Debatte und zum Labor für individuelles Verhalten darin.
„Where were you on January 8th?“ ist ein Thesenstück zur iranischen Gegenwart, aber in anderer Weise, als man es vielleicht erwartet. Keine aktionsreiche, mitunter heldenhafte Schilderung von Ereignissen der jüngsten Studentenproteste, sondern eine präzise Beschreibung der Verhältnisse, aus denen sie sich hervorgestemmt haben. Vier Frauen und zwei Männer gehen wechselweise auf und ab über weiße Quadrate, die zum Rand hin aus der parallelen Anordnung geraten. An die Proteste erinnern nur grüne Kopftücher und die Allgegenwart von Mobiltelefonen, über die die SpielerInnen ausschließlich kommunizieren. Eine Waffe ist abhandengekommen; das setzt Ängste, Allmachtswünsche und Zerstörungsfantasien frei. Doch die Frage, die sich jeder zuerst stellt, ist die eines vorweggenommenen Verhörs. Die verhassten Revolutionsführer sitzen im eigenen Kopf.
Die Sache mit den Hasen aus Tallinn ist nur am Rande ein reenactment der Performance, mit der Joseph Beuys 1965 seinen Diskurs des erweiterten Kunstbegriffs einleitete. Das Ensemble NO99 findet sich vielmehr wieder in der Rolle von Hofnarren der Demokratie, die fürs halbe Geld ganze Arbeit machen sollen. Der estnische Haushalt hat sich für den Euro schöngespart. Das Theater steht zwischen Schließung, nationaler Sinnstiftung und übernationalen Diskursen. Die Kulturministerin heißt Hase, weiß von nichts, kriegt aber ihr Fett ab mit allen Zaubermitteln des Theaters. Alle von der Schließung bedrohten deutsche Bühnen mögen für ein Gastspiel zusammenlegen. Die Aufführung ist ein Antidot gegen die larmoyante Defensive deutscher Theaterdebatten.