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Archiv-Artikel

ALLE SORGEN, DIE NICHT EINEN SELBST BETREFFEN, HYSTERIE ZU NENNEN, IST EIN BELIEBTES VERFAHREN. ABER BESSER MACHT ES DAS NICHT Den Schmutz der Welt klein denken

Foto: Lou Probsthayn

KATRIN SEDDIG

Jetzt beschweren sich alle. Ich beschwere mich selber gerne, selber laut und selber nicht richtig, denn ich beschwere mich fast ausschließlich bei Leuten, die ich kenne und leiden mag. Und die haben das gar nicht verdient.

Draußen ist Sturm und Dunkelheit, draußen ist manches unterbrochen, die Schule, das Amt und der Flugverkehr. Das ist in Ordnung und vernünftig, alles womit man die Welt etwas entschleunigen kann, damit die Schäden kleiner gehalten werden können, ist richtig. Entscheidungen sollen idealerweise mit Vernunft getroffen werden. Mir kommt es alles sehr vernünftig vor, ich bin zufrieden, das kommt selten vor. Aber ich bin nicht die Welt, die Welt beschwert sich weiter. Die Welt in Form von Männern, hauptsächlich Männern, sitzt in ihrem Büro, in ihrem Audi 100, vor ihrem iPhone und beschwert sich über die Vernunft. Über die Warnungen. Über alles, weil alles, insgesamt genommen, ihnen zu viel vorkommt. Deshalb nennen sie es Hysterie. Es soll eine Hysterie sein, was hier herrscht und verbreitet wird. Wenn das hier irgendwann gedruckt wird, dann werden wir sehen, ob es so war.

Nein, das werden wir nicht, denn es zeigt sich nicht hinterher, ob eine vorsorgliche Warnung richtig war, eine vorsorgliche Warnung ist immer richtig, wenn sie vor Dingen warnt, die realistisch sind. Unabhängig davon, ob dann später schlimme Sachen passieren oder nicht. Aber manche Leute fühlen sich davon persönlich – sagen wir – negativ berührt. Ich könnte ihnen entgegenhalten, dass es ihnen freisteht, nicht minütlich alle Medien zu verfolgen, die ihnen mit ihrem Smartphone, Fernseher, Radio zur Verfügung stehen. Ich könnte ihnen raten, mal von ihrem Heizungsplatz aufzuschauen und über das Feld zu blicken, auf die Küste und zu dem Kind, das 22 Kilo wiegt und nicht 81 Kilo, wie sie selbst.

Das Problem lässt sich einkreisen. Das Problem liegt da, wo der andere anfängt. Ich fühle mich sicher. Ich denke, für mich ist es nicht gefährlich. Ich bin, in diesem Falle, in diesem Moment, also nicht betroffen. Deshalb möchte ich, der ich stark und cool bin, nichts von Warnungen hören. Was drückt sich da aus? Stärke, ein Grinsen, eine Überlegenheit, ein Über-den-Dingen-Stehen? Hysterie, das wirft man Leuten vor, die überreagieren, und zwar auf eine Art, die die Lage noch verschärft, traditionell sind das Weiber und Schwache.

Und es geht in die gleiche Richtung, wenn dieselben zu allen Themen meinen, sie würden künstlich aufgebauscht, das finden sie bei Problemen mit havarierten Atomkraftwerken, beim Meeressterben, Klimawandel, bei Missbrauchsdebatten, bei allem, wovon sie sich fernhalten wollen, fernhalten durch Herabsetzung.

So lässt sich der Schmutz der Welt klein denken. Sind doch alle nur hysterisch. Nur man selbst ist souverän, cool, ein Mann. (Manchmal auch eine Frau, kommt alles vor).

Ich mag das nicht. Ich kann das nicht hören. Ich sage, du, der du jemandem, der sich Sorgen macht, Hysterie vorwirfst, ich werfe dir auch was vor, ich werfe dir vor, dass du dir keine Sorgen machst. Du blökst nur immer rum. Was ist los mit dir? Hat niemand deine Sorgen jemals ernst genommen? Musst du deshalb jetzt den dicken Max machen und auf anderen herumtrampeln? Musst du dich sicher geben und andere verachten, weil du dich selbst verachtest?

Mein Freund, werd’ erwachsen und sieh es endlich ein, die Welt ist ganz schön scheiße. Wir machen uns nicht zu viele Sorgen. Wir machen uns viel zu wenig Sorgen, viel, viel zu wenig. Es ist alles sogar noch viel schlimmer. Aber irgendwie müssen wir hier leben, mit all den Sorgen und mit Leuten wie dir. Beschwer dich doch bei deiner Mutter!  KATRIN SEDDIG Katrin Seddig ist Schriftstellerin in Hamburg, ihr jüngstes Buch, „Eheroman“, erschien 2012. Ihr Interesse gilt dem Fremden im Eigenen