: Den Stimmen zuhören
SEELE Im Konzept des „Hometreatment“ helfen ehemalige Psychiatriepatienten anderen Menschen in Krisen. Ihre eigenen Erfahrungen verbinden sie mit dem Wissen, das sie zuvor in einer Weiterbildung erworben haben
■ Die Techniker Krankenkasse fördert das Netzwerk Psychische Gesundheit, zu dem das Hometreatment und die Krisenpension gehören. Psychiatrisch Erkrankte verpflichten sich mit der – freiwilligen – Teilnahme an diesem Programm, Klinikaufenthalte möglichst zu vermeiden und dafür die ambulanten Hilfsmöglichkeiten durch professionelle Kräfte und weitergebildete Psychiatrie-Erfahrene in Anspruch zu nehmen.
■ Die Techniker Krankenkasse stellt dem Träger, der Krisenpension und Hometreatment gGmbH, dafür pro Versicherten ein Budget zur Verfügung, das je nach Behandlungsvorgeschichte bei 1.000 bis 6.000 Euro pro Jahr liegt. Muss der Patient dennoch in eine herkömmliche Klinik – die Tagessätze liegen bei 280 Euro – wird der Träger in die finanzielle Verantwortung genommen.
■ An der Ex-In-Weiterbildung können Psychiatrie-Erfahrene teilnehmen, die dann später unter Umständen als „GenesungsbegleiterInnen“ in verschiedenen Einrichtungen arbeiten. Die Kursgebühr von 540 Euro für den über ein Jahr laufenden 250-stündigen Kurs müssen die TeilnehmerInnen selbst bezahlen.
■ In Berlin bekommen die Ex-Inler in einer Anstellung im Hometreatment und der Krisenpension einen Stundenlohn ab 7,50 Euro brutto. Viele von ihnen sind wegen ihrer psychiatrischen Erkrankung verrentet und verdienen sich als „Genesungsbegleiter“ etwas dazu. Es handelt sich aber nicht um einen behördlich anerkannten Beruf. (Infos: www.krisenpension.de)
VON BARBARA DRIBBUSCH
Die Sache mit der Geburtstagseinladung, zum Beispiel. Ein Verwandter von Helmut Möller hatte ihm die Karte geschickt: „Lieber Patient“, stand da drauf, „Du bist eingeladen zu meinem Geburtstag. Folgende Nebenwirkungen sind zu erwarten…“ Was viele Leute nur als abgeschmackten Scherz empfinden würden, stürzte Möller in eine Psychokrise. Bei seiner Vorgeschichte.
Möller, diplomierter Landschaftsarchitekt, hatte Jahre zuvor eine psychotische Episode durchlebt. Verfolgt hatte er sich gefühlt, von allen, und als sein damaliger Chef die Computer der Mitarbeiter tatsächlich über ein spezielles Softwareprogramm überwachen ließ und das rauskam, konnte Möller nicht mehr die Grenze zwischen Wahn und Wirklichkeit ziehen. „Ich kam in die Klinik“, erzählt der 35-Jährige. Die Diagnose lautete auf Schizophrenie.
Möller unterzeichnete danach eine Vereinbarung mit der Techniker Krankenkasse zum „Hometreatment“, zur ambulanten Betreuung in seinem Wohnbezirk Berlin-Tempelhof. Das erwies sich als der richtige Schritt.
Denn bei seiner jüngsten Krise traf er im „Hometreatment“ auf Lise Tiefenbach. „Die Gespräche mit ihr waren glaubwürdig“, erzählt er. Tiefenbach, weitergebildete „Genesungsbegleiterin“, stempelte die Verfolgungsängste, die sich um die Einladungskarte rankten, nicht einfach als krankhaft ab.
Grenzzustände annehmen
Stattdessen gab sie zu bedenken, die Karte sähe doch eher aus wie eine Aspirin-Werbung, mit den grün-weiß-gelben Farben. Aspirin, so was gebe man gegen Kopfschmerzen, das sei doch eine ganz harmlose Sache. So harmlos wie eine Einladungskarte mit einem etwas grenzwertigen Scherz.
„Wir psychologisieren nicht, wir normalisieren“, erklärt Tiefenbach im Gespräch mit der taz. Die promovierte 48-jährige Sozialwissenschaftlerin weiß als Psychiatrie-Erfahrene selbst, wie das ist, wenn man merkwürdige Dinge wahrnimmt, wenn man Stimmen hört, die andere nicht vernehmen, und in eine Klinik kommt. Ihre Stimmen im Kopf sind heute verstummt, aber „ich habe Grenzzustände als etwas Normales kennengelernt“, berichtet sie.
Zweimal in der Woche sprach sie mit Möller, war Tag und Nacht erreichbar für ihn. Innerhalb von zwei Wochen beruhigte er sich. Auch der Arbeitsauftrag, der ihn als Alleinunternehmer im Landschaftsbau so unter Stress gesetzt hatte, wirkte plötzlich nicht mehr so bedrohlich. Ein Klinikaufenthalt war abgewendet.
Tiefenbach hatte zuvor einen 250-stündigen Kurs absolviert. Ex-In heißt das Projekt, „Experienced-Involvement“. Dabei werden ehemalige Psychiatriepatienten, sogenannte Psychiatrie-Erfahrene, geschult, Klienten durch Krisen zu begleiten. In Berlin läuft jetzt der dritte Ausbildungsgang.
Fünf Absolventen aus „Ex-In“ arbeiten bereits als entlohnte „Genesungsbegleiter“ bei der Krisenpension und Hometreatment gGmbh, neben einem 16-köpfigen multiprofessionellen Team von Sozialarbeitern, Krankenpflegern, Psychologen. Die gemeinnützige GmbH wird durch die Techniker Krankenkasse und die City BKK finanziert und wendet sich bislang vor allem an deren Versicherte. Demnächst kämen noch vier bis fünf weitere „Ex-Inler“ zum Mitarbeiterstab dazu, sagt Thomas Floeth, Geschäftsführer des Unternehmens.
Mit manchen romantischen Vorstellungen der Antipsychiatrie, dass Erkrankte sich auch ohne professionelle Hilfe und ohne Psychopharmaka heilen können, hat das „Hometreatment“ allerdings wenig zu tun. Zumindest bei den Erstgesprächen mit den Klienten ist immer eine professionelle Kraft dabei. Psychopharmaka gehören zur Behandlung dazu und werden nicht abgelehnt. Auch Möller bekommt ein Neuroleptikum.
„Wir arbeiten mit niedergelassenen Psychiatern zusammen“, berichtet Tiefenbach. Allerdings gelte die Devise: „So wenig Medikamente wie möglich und nur so viel wie nötig.“ Tiefenbach heißt wie Möller in Wirklichkeit anders, will aber als Psychiatrie-Erfahrene ihren wirklichen Namen nicht in der Zeitung gedruckt sehen.
Für die Ex-In-Absolventin liegt die Chance des Projekts darin, dass die GenesungsbegleiterInnen ihr eigenes subjektives Erfahrungswissen mit dem allgemeinen Kenntnisstand über die Erkrankung verbinden und dies dann auch den akut Betroffenen vermitteln. „Psychiatrie-Erfahrene können Inhalte ernster nehmen als Nicht-Erfahrene“, sagt Tiefenbach.
„Für das Stimmenhören gibt es auf Seiten der Betroffenen mehrere Erklärungen: Stimmen zu hören, kann ja technisch bedingt sein, etwa durch einen Chip im Ohr, man kann es auch religiös erklären, indem die Stimmen von Gott kommen. Es kann telepathisch sein, wenn man glaubt, zu hören, was der Nachbar sagt. Es kann einen psychologischen Grund geben, nämlich den, dass man gerade unter Stress und überfordert ist. Und es gibt eine biologische Erklärung, nach der zu viel Dopamin im Hirn der Grund für das Stimmenhören ist“, zählt Tiefenbach auf. Ein Klient, mit dem so ausführlich über sein Phänomen gesprochen wird, fühlt sich ernst genommen, und das entlastet.
In den Workshops der Ex-In-Ausbildung hat die Genesungsbegleiterin zusätzliche Techniken gelernt, um Vertrauen aufzubauen. „Entlastend und angenehm für viele Klienten ist das reflektierende Team“, schildert Tiefenbach.
Dabei sitzen drei Leute im Raum, darunter der Klient und zwei BetreuerInnen. Die drei Leute tauschen sich aus, die beiden KollegInnen sprechen im Beisein des Klienten auch über ihn und teilen ihre Beobachtungen mit.
Gegen das Misstrauen
Die Übung ist ein Gegenmittel gegen das tiefe und nicht unberechtigte Misstrauen von psychotisch Erkrankten, dass Dinge geschehen, Urteile über sie gefällt werden, ohne dass sie noch einen Einfluss darauf haben. Auch Möller schätzt die Übung. „Ich litt in meinen Krisen auch unter der übersteigerten Angst, alle Menschen in der Umgebung seien nur dazu da, mich kleinzumachen“, erzählt er.
Wenn es trotzdem hart auf hart kommt, steht den Klienten die „Krisenpension“ in Berlin-Schöneberg zur Verfügung, eine Wohnung mit fünf Zimmern und Rund-um-die-Uhr-Betreuung. Auch ein „weiches Zimmer“ ist darunter, mit vielen Kissen, wo PatientInnen schlimme Phasen durchstehen können, ohne gleich die Maximaldosis an Medikamenten zu bekommen.
Die Betten in der Krisenpension sind aber nicht mehr voll besetzt, „die Leute bevorzugen das Hometreatment“, erklärt Floeth.
Der Geschäftsführer ist auch zum Erfolg gezwungen: In den Verträgen mit der Techniker Krankenkasse verpflichtet sich seine GmbH, alles zu tun, damit der Patient nicht in eine der herkömmlichen Kliniken kommt. Wenn dies aber doch passiert, „dann müssen wir dafür zahlen“, schildert Floeth die Vertragsbedingungen mit der Krankenkasse.
Das, was die Antipsychiatrie früher immer forderte, passiert heute also auch aus wirtschaftlichen Erwägungen heraus. Klinikaufenthalte zu vermeiden, sagte Floeth, „dazu sind wir hochmotiviert“.