Ausgebootet

von DOMINIC JOHNSON
und FRANÇOIS MISSER

Boubacar Ndiaye dachte, er hätte das Geschäft seines Lebens gemacht. 17 Millionen CFA-Francs, knapp 26.000 Euro, hatte der Fischer aus Yarakh in Senegal von 40 jungen Leuten kassiert, die die lange und riskante Bootsfahrt auf die Kanarischen Inseln wagen wollten. Für vier Millionen kaufte er ein neues, großes Fischerboot, dazu Benzin und Nahrung, und sammelte Passagiere. Aber als sich die Reisegruppe komplett eines Abends am Strand eingefunden hatte, schlug die Polizei zu. Alle Migranten wurden verhaftet, Boubacar Ndiaye kam als „Schleuser“ vor Gericht und erhielt ein Jahr Gefängnis.

Yarakh ist ein Küstenvorort der senegalesischen Hauptstadt Dakar, der allmählich von der Millionenstadt und ihren Stadtautobahnen eingezwängt wird. Hier demonstrierten vor einer Woche wütende Emigranten, die von den Kanaren wieder abgeschoben worden waren. „Visa oder Tod!“, skandierten sie.

Eigentlich leben die meisten Küstenstädte Westafrikas, von Marokko bis hinunter nach Guinea, von der Fischerei. Diese 2.000 Kilometer Atlantikküste beherbergen eine der letzten großen Fischreserven der Welt. In Senegal stellt der Sektor laut Regierung 15 Prozent aller Arbeitsplätze und erwirtschaftet ein Drittel der Exporteinnahmen; Fisch ist ein beliebtes Grundnahrungsmittel. Aber seit mindestens zehn Jahren, so warnen Umweltschützer, werden die westafrikanischen Gewässer systematisch überfischt. Maximal 420.000 Tonnen Fisch dürften aus Senegals Territorialgewässern jährlich geholt werden, um die Bestände zu erhalten, sagte die Regierung Ende der 90er Jahre; real seien es durchschnittlich 450.000. Bis 2002 sank die Fangmenge auf 374.000 Tonnen. Exportiert von Senegals Fisch wird rund ein Viertel, zumeist nach Europa; der Rest wird vor Ort gegessen.

Das Problem: Zu den Kleinbooten der afrikanischen Fischer kommt die industrielle Fischerei aus Europa. Die EU, deren eigene Gewässer zu großen Teilen bereits leer gefischt sind, schickt ihre hoch subventionierten Fischereiflotten immer öfter vor die Küste Afrikas und kauft den betroffenen Regierungen Fischereirechte ab. Mauretanien ist mit 86 Millionen Euro jährlich der größte Empfänger von EU-Fischereigeldern, in Senegal zahlt die EU 12 Millionen Euro im Jahr. Für dieses Geld gewähren die betroffenen Staaten einer festgelegten Anzahl von europäischen Kuttern Zugang zu ihren Territorialgewässern beziehungsweise festgelegte Fangmengen für einzelne Arten. Dazu kommen Lizenzgebühren nach Fangmenge.

Manche der rund 850 europäischen Fischkutter außerhalb der europäischen Gewässer sind „schwimmende Fischfabriken“. Die „Atlantic Dawn“ aus Irland holt pro Tag vor dem mauretanischen Naturschutzgebiet Banc d’Arguin, laut Naturschützern der größte Fischlaichplatz Westafrikas, bis zu 400 Tonnen aus dem Wasser; dafür bräuchte ein lokaler Kleinfischer zehn Jahre.

Nach Angaben des World Wide Fund for Nature gehen 80 Prozent des Fischfangs vor Westafrika seit 1960 auf das Konto ausländischer Flotten. Vor Senegals Küste sind inzwischen fast so viele europäische wie einheimische Kutter in der industriellen Fischerei unterwegs. Einheimische Fischer vor allem auf Kleinbooten – davon sind in Senegal noch immerhin 60.000 übrig – klagen über sinkenden Ertrag und fühlen sich im Wortsinne ausgebootet.

In einer EU-Studie zur Fischerei in Senegal heißt es: „Fischerei in Senegal ist ein Beruf, der über die Generationen vererbt wird. Seit Jahrhunderten beuten Kleinfischer die Meeresbestände der Küstenregionen aus. Es überrascht daher nicht, dass sie in ihrer Tradition davon ausgehen, das Recht auf freien Zugang zu diesen Ressourcen zu haben. Dieser Glaube wurde erschüttert durch die massive Zuwanderung ehemaliger landwirtschaftlicher Arbeiter nach dem Verfall der Bauerneinkommen, durch den Niedergang der Fischbestände und vor allem durch die zunehmende Präsenz industrieller Fangflotten unter ausländischer Flagge.“ Nicht überraschend verlangt die Studie, Senegals Regierung solle den einheimischen Fischern das „Recht auf freien Zugang“ wegnehmen.

Doch nun endlich haben die Fischer von Senegal eine lukrative neue Einkommensquelle entdeckt: Sie werden Reiseunternehmer. Sie vermieten ihre Boote an Auswanderer oder verkaufen ihre Boote an Schleuser. „Wir haben es nicht mit Schleppernetzwerken zu tun, sondern mit Personen, die Boote kaufen, Reisen organisieren und Passagiere anwerben“, sagte der Polizeichef des senegalesischen Küstenortes Mbour, Mamaodu Diagne der UN-Nachrichtenagentur IRIN. Die Preise der traditionellen buntbemalten 20 Meter langen Fischerboote haben sich dort in den letzten Monaten verdreifacht – ein einziges kann in Mbour heute mehr einbringen als das Jahreseinkommen eines Fischers. „Wir haben keine Wahl“, wird in dem UN-Bericht ein alter Fischer zitiert. „Die Europäer plündern unsere Gewässer aus.“

Aus allen senegalesischen Küstenstädten zwischen Dakar und der mauretanischen Grenze wird Ähnliches berichtet. Manche Orte sollen so gut wie leer sein, weil sämtliche Bewohner in See gestochen sind, berichten senegalesische Medien.

Die Krise der Fischerei geht über die EU-Fischereiabkommen hinaus. Aus den meisten westafrikanischen Ländern wird über illegale Fischerei geklagt, von asiatischen, aber auch von europäischen Flotten, die teils mit verbotenen Fangmethoden das maritime Ökosystem verwüsten. Nach Untersuchungen des britischen Entwicklungshilfeministeriums gehen Guinea jedes Jahr 100 Millionen Euro Exporteinnahmen verloren, weil unlizenzierte ausländische Kutter 34.000 Tonnen Fisch plündern. Das ist viermal so viel Geld wie das, was Guinea von der EU in seinem Fischereiabkommen bekommt.

Die meisten illegalen Kutter segeln unter Billigflaggen wie Panama, Honduras oder St. Vincent. Viele der Plünderer kommen auch aus Asien und sind in den Häfen Guineas basiert – in Kollusion mit korrupten guineischen Regierungsstellen, sagt die EU-Fischereidirektion. Bittere Ironie: Hauptumschlagplatz für illegal gefangenen Fisch aus Westafrika ist der Hafen Las Palmas auf den Kanaren, berichteten letztes Jahr zwei europäische Expertenorganisationen.

Die Wahrnehmung afrikanischer Fischer, die eigenen Regierungen hätten ihre maritimen Ressourcen entweder legal oder illegal an fremde Ausbeuter verkauft, führt regelmäßig zu Problemen bei der Neuverhandlung von EU-Fischereiabkommen. 2002 wurden EU-Boote mehrere Monate lang aus den senegalesischen Gewässern verbannt, während die Regierung in Dakar und die EU-Kommission über ein neues Abkommen stritten. Es dauerte bis Juni 2002, um den eigentlich 2001 abgelaufenen Vertrag zu erneuern – mit geringfügigen Verbesserungen für die senegalesische Seite. Dieses Abkommen läuft ebenso wie das für Mauretanien Ende Juli 2006 aus, und die Neuverhandlungen finden nun im Windschatten der illegalen Migration statt.

Mit Mauretanien, dem größten EU-Fischereipartner in Westafrika, sind die Gespräche kürzlich im fünften Anlauf erneut gescheitert. Die mauretanischen Fischerverbände wollen der EU den Zugang zu Kopffüßlern in mauretanischen Gewässern verbieten. Das Abkommen soll nicht nur die maximale Tonnage der europäischen Kutter neu festschreiben, sondern auch maximale Fangmengen festlegen. Die Verbände kritisieren zudem, dass die Europäer bislang ihren Fang nicht vertragsgemäß in Mauretanien abladen, sondern auf den Kanaren.

In Senegal hat es seit April mehrere Protestaktionen der Fischer im Zusammenhang mit den EU-Verhandlungen gegeben. Déo Gaye, Präsident des senegalesischen Fischerverbandes, wandte sich gegen Bestrebungen, den einheimischen Fischern schärfere Beschränkungen aufzuerlegen als den europäischen. „Es werden Maßnahmen getroffen, um gefährdete Bestände zu schonen – Quoten, Ruhezeiten, Schutzzonen. Aber ich verstehe nicht, dass man den senegalesischen Fischern solche Anstrengungen abverlangt, während man mit fremden Ländern Abkommen schließt, die ihnen den Fang ebenjener Arten erlauben“, sagte Gaye. Die EU, kritisieren Naturschützer, verlange von Senegal und Mauretanien, die bisher überall gleichzeitig festgelegte zweimonatige Ruhepause, in der viele Fischsorten zwecks Erholung nicht gefischt werden dürfen, auseinander zu legen, damit die europäischen Flotten ohne Unterbrechung von einem Territorialgewässer ins andere wechseln können.

Die nächsten Fischereiabkommen der EU mit Senegal und Mauretanien, so fordern die Fischerverbände beider Länder, sollten zu Entwicklungspartnerschaften erweitert werden: Dabei sollte es nicht nur um Fangmengen gehen, sondern auch um die Fischverarbeitung vor Ort, die Marktchancen afrikanischer Fischereiprodukte in der EU und die Verbesserung der Infrastruktur der Fischerorte. Sonst werden noch mehr Menschen in die lange Reise Richtung Europa getrieben. Sie wird in der senegalesischen Hafenstadt Saint-Louis „Dschihad“ genannt – „denn auch wer dabei stirbt, kommt ins Paradies“.